Pressefreiheit:Wenn Merkel einen Krieg besucht

PROTEST DEMANDING JUSTICE FOR MURDER OF MEXICAN PHOTOGRAPHER

Mexiko City: Eine Demonstration nach dem Mord an dem Fotografen Ruben Espinosa.

(Foto: dpa)

In Mexiko entscheiden Drogenbosse über Leben und Sterben von Journalisten und Politikern. Wer im Rathaus sitzt, kooperiert mit der Mafia - oder ist lebensmüde. Jetzt hofft das Land auf ein Wort der Kanzlerin.

Von Boris Herrmann

Am Tag seiner Ermordung verließ der Journalist und Familienvater Javier Valdez um 11.56 Uhr die Redaktion seiner Zeitung Ríodoce in Culiacán. "Gott segne mich", sagte er zum Abschied, wie immer. Ein Kollege rief ihm hinterher: "Und beschützen soll er dich auch!" Dann trat Valdez mit einem Lächeln ins Freie, auf dem Kopf sein Panamahut. Was er nicht ahnte: Weder Gott noch sonst jemand würde ihn diesmal beschützen.

Vier Minuten später lag er von zwölf Kugeln durchsiebt auf dem Parkplatz. Hingerichtet um zwölf Uhr mittags. Es war bereits der sechste Journalistenmord in diesem Jahr in Mexiko und wie in den meisten anderen Fällen war es auch eine perfide Inszenierung - am helllichten Tag, in aller Öffentlichkeit. Jeder sollte sehen: Wer schreibt, was er will, der stirbt.

Javier Valdez gehörte 2003 zu den Gründern der Wochenzeitung Ríodoce. Sie gilt als das einzige kritische und unabhängige Medium in Culiacán. Die Stadt mit ihren gut 600 000 Einwohnern ist das wirtschaftliche Zentrum des Bundesstaates Sinaloa. Wirtschaft bedeutet hier: Drogenhandel. Die Gegend wird nicht von Präsident Enrique Peña Nieto regiert und auch nicht von der Landesregierung, sondern vom Sinaloa-Kartell, einer der mächtigsten Verbrecherorganisationen unserer Zeit. Wer hier im Rathaus oder in einer Polizeidirektion sitzt, kooperiert mit der Mafia. Oder er ist lebensmüde. Seit der langjährige Kartellboss Joaquín Chapo Guzmán in einem Hochsicherheitsgefängnis in New York sitzt, führen seine potenziellen Nachfolger einen Machtkampf, in dem so viel Blut fließt wie lange nicht mehr.

Der vielfach prämierte Reporter Javier Valdez hatte all das in seinen Texten und Büchern immer wieder thematisiert. Er war landesweit bekannt für seine Recherchen im Drogenmilieu. In Sinaloa gibt es elf Flüsse, Ríodoce bedeutet "Zwölfter Fluss", und genau das sollte seine Zeitung sein, derjenige, der unabhängige Informationen transportiert. Diese Idee bezahlte Valdez Mitte Mai mit seinem Leben.

Die Kollegen von Ríodoce haben seine letzten Minuten in einer bewegenden Reportage minutiös nachgezeichnet. In die Autorenzeile schrieben sie den Namen des Toten. Auch das sollte eine Botschaft sein: Ihr glaubt, ihr habt ihn ausradiert, aber wir machen in seinem Namen weiter!

Sie hätten alle Angst, sagt ein Kollege des Ermordeten. Aufhören aber kommt nicht infrage

Verständlicherweise bringt nicht jeder mexikanische Journalist solchen Heldenmut auf. Oder sollte man es besser Fahrlässigkeit nennen? Als Ende März die mexikanische Journalistin Miroslava Breach, 54, erschossen wurde, das fünfte Opfer in diesem Jahr, beschloss der Herausgeber ihrer Zeitung Norte de Ciudad Juárez, den Betrieb einzustellen. Er sei nicht mehr bereit, dass ein weiterer seiner Mitarbeiter für diese Arbeit sterben müsse, schrieb er in der letzten Ausgabe auf die Titelseite. Darüber stand die Überschrift: "Adiós!"

Bei Ríodoce sind sie der Ansicht, dass Mexiko endgültig verloren ist, wenn sich jetzt auch noch die letzten Verteidiger der Meinungsfreiheit und damit der Demokratie verabschieden. Sie wissen aber auch, welchem Wahnsinn sie sich damit aussetzen. Miguel Ángel Vega, 37, schreibt für Ríodoce über den Drogenkrieg und die Verstrickungen der Lokalpolitik. Er sagt: "Alle Journalisten in Culiacán haben Angst. Alle in unserer Redaktion haben Paranoia." Vega sagt aber auch, er habe keine Sekunde lang daran gedacht, aufzuhören.

"An dem Tag, an dem jemand im Kartell den Daumen senkt, werden sie mich töten"

Javier Valdez war sein Chef, sein Kollege und Freund. Er hat seine Leiche auf dem Parkplatz liegen sehen, das Gesicht nach unten, seinen Panamahut noch immer auf dem Kopf. Auch Valdez war natürlich klar, dass sein Job lebensgefährlich ist. 2009 war im Foyer der Redaktion schon einmal eine Granate explodiert. Kurz vor seinem Tod gab er dem deutschen Autor und Journalisten Airen ein Interview. "An dem Tag, an dem jemand im Kartell den Daumen senkt", sagte er darin, "werden sie mich töten." Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung druckte das Gespräch, wenige Tage nachdem jemand über Valdez den Daumen gesenkt hatte.

Die Aufklärungsquote liegt bei 0,3 Prozent

Warum in Mexiko das Leben eines Journalisten wie selbstverständlich von einem Daumen abhängt? "Weil die Mörder wissen, dass sie keinerlei Konsequenzen zu befürchten haben", sagt Vega. Das ist so etwas wie der zweite Skandal hinter dem ersten, die Straflosigkeit. Seit Enrique Peña Nieto vor viereinhalb Jahren das Präsidentenamt übernahm, wurden nach Zählungen des Weltzeitungsverbandes Wan-Ifra mindestens 35 Journalisten in Mexiko ermordet. Nahezu alle diese Fälle blieben ungesühnt. Dasselbe gilt für die alltäglichen Bedrohungen und Attacken. Die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft räumt ein, dass von den 798 Anzeigen, die seit 2010 wegen Gewalt gegen Journalisten eingingen, lediglich drei zu einer Verurteilung führten. Drei. Anders ausgedrückt: Die Aufklärungsquote liegt bei 0,3 Prozent.

Wer noch einen Rest von Optimismus übrig hat, der hofft, dass der Fall des überaus populären Javier Valdez einen Wendepunkt markiert. Sein Tod löste nationale und internationale Proteste aus. Daraufhin sah sich Präsident Peña Nieto offenbar genötigt, die Tat zu verurteilen. Er kündigte auch umgehend ein Maßnahmenpaket zum Schutz der Presse an. "35 Tote zu spät", meint Rodrigo Bonilla, der beim Weltzeitungsverband für Lateinamerika zuständig ist. "Es sah so aus, als hätte der Präsident gerade erst entdeckt, dass in Mexiko Journalisten ermordet werden." Tatsächlich gilt Mexiko seit Jahren als das gefährlichste Land für unabhängige Berichterstatter außerhalb von Kriegsgebieten.

Schlimmer noch: Seit der Ankündigung Peña Nietos ist nichts Substanzielles mehr passiert. Der Staatspräsident hat zu dem Thema die Gouverneure der Bundesstaaten einberufen. Aus Sicht von Bonilla können diese oft schwer korrupten Landesfürsten aber kein Teil der Lösung sein, weil sie ein Teil des Problems sind. Er fordert stattdessen, dass die Regierung endlich einen unabhängigen Ermittler der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sowie den Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit der Vereinten Nationen einlädt, um die Gewaltverbrechen gegen Journalisten zu untersuchen. Die jüngsten Bitten um einen offiziellen Besuch vonseiten der UN und der OAS verhallten ungehört.

An diesem Freitag wird Peña Nieto in Mexiko-Stadt Bundeskanzlerin Angela Merkel empfangen. Es soll in erster Linie um die Neuverhandlung eines Freihandelsabkommens zwischen Mexiko und der Europäischen Union gehen. Bonilla - und mit ihm 100 Organisationen aus beiden Ländern - hoffen aber, dass Merkel dabei auch die dramatische Menschenrechtslage in Mexiko anspricht. Und dass sie den Schutz der Pressefreiheit zur Bedingung für künftige bilaterale Beziehungen macht. "Berlin hat den Tod von Javier Valdez scharf verurteilt", sagt Bonilla, "wir erwarten uns von Frau Merkel jetzt ein starkes Signal."

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