Skandale sind oft wie Tsunamis. Der größte Schaden entsteht, wenn sich die Welle zurückzieht. Als Polizisten am Rande einer Pegida-Demo in Dresden zwei Journalisten 45 Minuten lang festhielten, weil ein Mann mit Deutschlandhut nicht gefilmt werden wollte, stöhnte das Land auf. Das Video, das den Vorfall zeigt, wurde fast eine Million Mal geklickt. Inzwischen hat die Polizei Stellung bezogen. Dresdens Polizeipräsident ließ mitteilen, dass ihm Grundrechte "besonders wichtig" seien, aber die Reporter "durch ihr Verhalten wenig dazu beigetragen" hätten, die Maßnahme abzukürzen.
Und Ministerpräsident Michael Kretschmer? Wünschte auf Twitter eine "Versachlichung der Debatte" und nannte sich einen "überzeugten Verteidiger der Pressefreiheit". Tage nachdem er kommentiert hatte: "Die Einzigen, die in diesem Video seriös auftreten, sind Polizisten."
Seit Mittwochabend nun ist klar: Der Pegida-Anhänger, der das Kamerateam den Beamten zuführte, ist Mitarbeiter des Landeskriminalamtes. Und Sachsen einmal mehr das Bundesland, in dem alles möglich scheint. Hinzu kommt, dass Polizei- und Ministerpräsident zuvor eine Sicht auf die Presse bedienten, die man von AfD und Pegida kennt. Journalisten sind demnach selbst schuld, wenn sie auf Demos filmen, selbst schuld, wenn sie Prügel beziehen, selbst schuld, wenn sie auf ihre Rechte pochen. Vonseiten des Staates ist solche Missachtung journalistischer Arbeit verantwortungslos.
Sachsens Ministerpräsident gilt als fleißig und geradeheraus. Einer, der sagt, was er denkt. Zum neuen Stil nach neun Jahren Stanislaw Tillich gehört auch die Bürgerkommunikation in den sozialen Netzwerken. Als der mutmaßliche Ex-Leibwächter Osama bin Ladens entgegen einem Gerichtsentscheid abgeschoben wurde, twitterte Kretschmer: "Ich bin froh, dass Sami A. Deutschland verlassen hat. Er soll nicht wiederkommen." Denkt er das wirklich - oder sagt er es, weil er glaubt, dass potenzielle Wähler es hören wollen? Es wird dahingehend nun viel gedeutelt: Kretschmer zittere vor der Landtagswahl im Herbst nächsten Jahres, wolle am rechten Rand fischen. Doch es ist müßig zu spekulieren, was der Ministerpräsident sich dachte, als er vorschnell Journalisten diskreditierte. Man muss viel eher diskutieren, was das bewirkt.
Medienvertreter werden in Sachsen überdurchschnittlich oft Opfer politisch motivierter Attacken. Der "Augenzeugen-Blog" des Deutschen Journalistenverbands sammelt die Fälle: 2016 stellte die Leipziger Internet-Zeitung die Berichterstattung von Legida-Demonstrationen ein, weil sie ihre Reporter nicht ausreichend geschützt sah. Derzeit wird in Dresden einem Pegida-Ordner der Prozess gemacht. Er soll einem Reporter den Ellenbogen in die Seite gerammt haben. Das ist das Klima, in dem Journalisten arbeiten.
Wer zulässt, dass der Eindruck entsteht, sie seien Störenfriede, die von der Polizei auf einen Fingerzeig hin aus dem Verkehr gezogen werden, gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der gefährdet die Pressefreiheit. Während der Verwerfungen der vergangenen Tage hat Michael Kretschmer dieses Wort zunächst nicht benutzt. Lange vor ihm hat das die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa getan, als sie eine Untersuchung forderte. Und Sachsen? Sichtet die Schäden nach dem Tsunami. Dem Ministerpräsidenten möchte man sagen: selbst schuld.