Kassel im März 2021. Bei einer Kundgebung gegen Corona-Maßnahmen tritt ein Querdenker nach einer Person aus einer Gegendemonstration. Als er bemerkt, dass ein freier Journalist die Szene dokumentiert, schlägt er ihm mit der Faust ins Gesicht. Der Journalist verliert das Bewusstsein, später stellen Ärzte eine Gesichtsprellung und ein Schleudertrauma fest.
Am gleichen Tag hält eine Querdenkerin in Nürnberg einem Journalisten ein Megafon mit lauten Sirenengeräuschen ans Ohr. Er leidet mehrere Tage unter Tinnitus, sie wird wegen Körperverletzung verurteilt.
Szenen wie diese trägt die Journalistenorganisation "Reporter ohne Grenzen" (RSF) zusammen. Sie fließen neben anderen Werten in die Rangliste zur Pressefreiheit ein, die nun zum 20. Mal veröffentlicht wurde. Dort liegt Deutschland im weltweiten Vergleich von 180 Ländern meist sehr weit oben, mit großem Abstand zu Staaten wie China, Russland oder Nordkorea. Auch in Europa steht die Bundesrepublik besser da als etwa Frankreich, Italien oder Spanien, von Ungarn ganz zu schweigen. Aber eine Insel der Glückseeligen ist Deutschland in Sachen Pressefreiheit trotzdem nicht. In diesem Jahr wird die Situation zwar immerhin als "zufriedenstellend" bewertet, das Land ist in der Rangliste aber erneut leicht abgerutscht, von Platz 13 auf 16. Ganz vorne liegen die Nordeuropäer: Norwegen, Dänemark und Schweden.
Nun ist Deutschland kein Land, in dem die Regierung den Medien vorschreibt, was sie zu berichten haben, in dem Zeitungen und Fernsehsender zentral kontrolliert und Beiträge vor der Veröffentlichung erst von staatlichen Stellen abgesegnet werden. Die Situation ist anders als in totalitären Regimen, wo Überwachung und Zensur von Medien nahezu allumfassend sind. Journalisten werden hierzulande auch nicht ermordet oder willkürlich ins Gefängnis gesteckt.
Doch auch in Deutschland sieht "Reporter ohne Grenzen" einige Probleme. So habe die Gewalt gegen Journalisten in den vergangenen Jahren stark zugenommen. 2021 registrierte RSF mit insgesamt 80 gewalttätigen Angriffen einen neuen Höchststand. 31 weitere Fälle seien bekannt, ließen sich aber nicht abschließend verifizieren. Die Organisation geht zudem von einer hohen Dunkelziffer aus, weil viele Fälle nicht gemeldet oder angezeigt würden.
Besonders gefährlich waren für Journalisten demnach die Proteste gegen Corona-Maßnahmen. Allein bei Demonstrationen im Milieu der Querdenker seien zwei Drittel der Angriffe registriert worden. Übergriffe gebe es regelmäßig auch "im Kontext antiisraelischer Demonstrationen".
Als problematisch wird immer wieder auch die Rolle der Polizei gesehen. Betroffene hätten über mangelnde Unterstützung geklagt, berichtet "Reporter ohne Grenzen". Beamte in unmittelbarer Nähe von Übergriffen seien oft nicht zu Hilfe gekommen. In zwölf Fällen sollen gar Polizisten gezielt Pressevertreter angegriffen haben, die klar als solche erkennbar waren. RSF zählt mehrere Fälle auf: So habe die Polizei etwa bei einer Demonstration im Juni in Berlin den Strahl eines Wasserwerfers auf einen Journalisten gerichtet. In Düsseldorf habe ein Journalist seinen Presseausweis gezeigt und sei dennoch gestoßen worden und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen. Polizisten seien über ihn hinweggerannt und hätten seine Kamera beschädigt. In München hätten im Dezember Beamte einen Pressevertreter mit Schlagstöcken getroffen.
Laut "Reporter ohne Grenzen" gebe es außerdem viele Fälle, die nicht in die Statistik einfließen, in denen Journalisten bedrängt, bedroht oder an ihrer Tätigkeit gehindert worden seien. Anfeindungen gingen teils auch bis ins private Umfeld hinein.
Neben der zunehmenden Gewalt gegen Medienvertreter kritisiert "Reporter ohne Grenzen" außerdem eine "Gesetzgebung, die Journalistinnen und Journalisten sowie ihre Quellen gefährdet". Im digitalen Raum würden Medienschaffende nicht genügend vor Überwachung geschützt. Es geht der Organisation dabei insbesondere um Staatstrojaner und Überwachungsbefugnisse von Sicherheitsbehörden wie dem Bundesnachrichtendienst, aber auch um die Pegasus-Spionagesoftware eines israelischen Unternehmens, die auch vom Bundeskriminalamt gekauft wurde. Defizite gebe es zudem beim Auskunftsrecht von Medien gegenüber Bundesbehörden sowie Klagen gegen kritische Recherchen.
Als weiteren Grund, warum Deutschland in der Rangliste gesunken ist, nennt RSF die sinkende publizistische Vielfalt bei Tageszeitungen. Sie nehme vor allem im Regionalen weiter ab. So wurde etwa bei der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten Anfang 2022 der Abbau von 20 Prozent der redaktionellen Stellen angekündigt. Wirtschaftliche Probleme hätten sich wie in vielen Ländern durch die Pandemie verstärkt. Im Index "wirtschaftliche Rahmenbedingungen" zeigen nur Norwegen und Schweden eine "gute Lage". Deutschland wird unter "zufriedenstellend" geführt.
Eine Gefahr für die publizistische Vielfalt ist laut RSF auch der Sexismus. Journalistinnen und queere Menschen erlebten beispielsweise "sexuelle Belästigung durch Interviewpartner, frauenverachtende Hasskommentare im Netz oder Benachteiligung gegenüber männlichen Kollegen". Als besonders gravierend hebt die Journalistenorganisation den Fall der Bild -Zeitung unter dem früheren Chefredakteur Julian Reichelt hervor. Ihm hatten mehrere Mitarbeiterinnen schwere Vorwürfe zu Machtmissbrauch, Affären und der Vermischung von Beruflichem und Privatem gemacht. Reichelt musste die Zeitung am Ende verlassen.