Preisverleihungen:Neue Spielregeln

Film still aus offiziellem Trailer "bandersnatch"

Der Zuschauer trifft in Bandersnatch per Klick Entscheidungen für den Programmierer Stefan Butler (Fionn Whitehead).

(Foto: Netflix)

Ist das ein Film? Eine Serie? Oder ein Computerspiel? Weil die Grenzen zwischen den Formaten verschwimmen, sortieren sich die Machtverhältnisse in Hollywood neu.

Von Jürgen Schmieder

Steven Spielberg produziert derzeit ein paar unglaubliche Geschichten für das Streamingportal des Technikkonzerns Apple. Die Achtzigerjahre-Anthologie-Serie Amazing Stories wird neu aufgelegt, sie soll ein Alleinstellungsmerkmal für die neue Plattform sein, die wohl am 25. März vorgestellt wird, und sollte Spielberg aufgrund einer herausragenden Episode für ein paar Preise nominiert werden: In welchen Kategorien? Und für welche Awards?

Oder zum Beispiel das Lied "This Is America" des Rappers Childish Gambino: Es wurde nicht traditionell als Single oder Teil eines Albums veröffentlicht, sondern zunächst als Musikvideo auf dem Portal Youtube, als Live-Performance während der Satiresendung Saturday Night Live und dann als Download. Bei den Grammy Awards im Februar wurde "This Is America" unter anderem als bestes Lied und bestes Musikvideo ausgezeichnet, und, ganz ehrlich: Dieses psychedelische und symbolisch aufgeladene Video des japanischen Regisseurs Hiro Murai mit der Botschaft, dass die USA ein psychotisches Land seien, ungerecht, unvereinbar und verrückt geworden an der eigenen Spaltung, ist das nicht ein fantastischer Kurzfilm?

Hätte Donald Glover, so der bürgerliche Name von Childish Gambino, das Video drei Tage lang in einem Kino im Bezirk Los Angeles gezeigt, hätte er sich dem Reglement der Academy of Motion Picture Arts and Sciences zufolge um einen Oscar bewerben und innerhalb von 18 Monaten tatsächlich Oscar, Grammy und Emmy (für die TV-Serie Atlanta) gewinnen können. Die Debatten um all die Preisverleihungen, ob das nun die Oscars (Film) sind, die Emmys (Fernsehen), die Grammys (Musik) oder, ja auch: The Game (Videospiele, mit mehr als 26 Millionen Zuschauern bei der Verleihung im Dezember), sind deshalb interessant, weil man sie in einem anderen, womöglich viel größeren Zusammenhang betrachten muss. Es geht um die Fragen: Was ist eigentlich ein Film? Was ist eine Serie? Was ist ein Musikvideo? Sind diese Schubladen überhaupt noch zeitgemäß? Welche Auswirkungen hat es auf die Unterhaltungsindustrie, wenn die Grenzen zunehmend verschwimmen? Und wer profitiert davon?

Was da gerade passiert, lässt sich am besten anhand von "Bandersnatch" beschreiben, offiziell eine Episode der Netflix-Anthologie-Serie Black Mirror. Die Handlung spielt im Jahr 1984, es geht um einen Programmierer, der anhand einer Romanvorlage ein revolutionäres Computerspiel erschaffen möchte. Nur: Der Zuschauer trifft an dramatischen Knotenpunkten regelmäßig per Klick Entscheidungen für den Protagonisten, es ist ein wahnwitziges Labyrinth des Erzählens mit Meta-Ebenen und unzähligen Varianten, jeder erlebt beim Ansehen eine andere interaktive Geschichte.

Was in aller Welt soll "Bandersnatch" also sein? Die Folge einer Serie? Ein Film? Ein Computerspiel? Niemand kann diese Frage eindeutig, letztgültig und ohne Widerspruch beantworten.

Diese neue Unsicherheit führt dazu, dass Multitalente wie Donald Glover derzeit unfasslich begehrt sind. Als Musiker ist er beim Label RCA Records unter Vertrag und war von September bis Dezember 2018 auf Nordamerika-Tour, im Kinofilm Solo: A Star Wars Story spielte er den legendären Lando Calrissian, im Remake von The Lion King wird er Simba sprechen, gemeinsam mit seinem Bruder Stephen schreibt er die Drehbücher zu Atlanta, das der TV-Sender FX gerade um eine dritte Staffel verlängert hat. Für eine Werbung von Google hat er ein "Playmoji" (eine virtuelle Version) von seinem musikalischen Künstler-Alter-Ego Childish Gambino erstellt - und warum zur Hölle trägt er eigentlich einen blonden Vollbart zum dunklen Afro? Muss ein neues, völlig anderes Projekt sein. "Die Leute wollen durchdrehen", sagte Donald Glover der Zeitschrift Vanity Fair: "Sie wollen was erleben." Sie wollen: unglaubliche Geschichten. Künstler legen sich dafür nicht mehr fest, der Schauspieler Michael B. Jordan zum Beispiel hat nun für Filme einen Vertrag mit dem Studio Warner Bros., für Serien einen mit Amazon Studios. Seine Kollegin Nicole Kidman wird in den Mini-Serien Big Little Lies und The Undoing auf dem Pay-TV-Kanal HBO zu sehen sein, für das Streamingportal von Amazon soll sie mehrere erotisch angehauchte Filme drehen, auf der Kinoleinwand wird sie in diesem Jahr in The Goldfinch präsent sein.

An Einfluss gewinnen Agenten, die für möglichst viele Preise sorgen

An Einfluss gewinnen deshalb ausgebuffte Agenten wie Joel Lubin und Jack Whigham von der Agentur CAA, Adam Venit von WME oder Tracy Jacobs von UTA, die kreative Leute mit klugen Verträgen an die richtigen Plattformen vermitteln - Leute also, die in der neuen Gemengelage für möglichst viele Awards sorgen. Netflix beschäftigt dafür die Marketing-Managerin Lisa Taback, die bei der Harvey-Weinstein-Firma Miramax bereits The King's Speech, The Artist und Spotlight zu Oscars geführt hat. Die Produktionskosten für den Netflix-Film Roma hatten bei 15 Millionen Dollar gelegen, das Unternehmen gab für Oscar-Werbung zusätzlich zwischen 25 und 30 Millionen Dollar aus. Taback konkurrierte mit den ehemaligen Weinstein-Mitarbeitern Tony Angellotti (Green Book), Dani Weinstein (BlacKkKlansman) und Cynthia Swartz (Black Panther) um die Gunst der Akademie-Mitglieder, und unterlag überraschend.

Apropos Oscars: Spielberg, der für Ready Player One eine Trophäe für die besten visuellen Effekte bekommen hat, beschwert sich seit längerer Zeit über das Reglement der Filmakademie: Die fünfteilige Dokuserie O.J.: Made in America des Sportsenders ESPN durfte vor zwei Jahren aufgrund einiger Kinovorführungen mit dem Oscar als bester Dokumentarfilm prämiert werden - diese Regel wurde seitdem geändert. Roma lief vor der Veröffentlichung bei Netflix ein paar Tage lang im Kino - und war deshalb in diesem Jahr dazu berechtigt, drei goldene Statuetten zu gewinnen.

Spielberg möchte nun bei der alljährlichen Tagung des Vorstandes im April erneut ein paar Änderungen anregen, zum Beispiel, dass ein Film nur dann nominiert werden darf, wenn er eine gewisse Zeit - im Gespräch sind derzeit zwei Monate - exklusiv in Kinos gelaufen ist. "Wer sich zum Fernsehformat bekennt, der produziert einen Fernsehfilm. Das verdient einen Emmy, aber keinen Oscar", sagte Steven Spielberg bereits im vergangenen Jahr. Er selbst wird in diesem Jahr mal wieder an Projekten für große Leinwand, Fernseher, Streamingportal und Videospielkonsole beteiligt sein. Wen das ganz besonders freut: seinen Agenten Richard Lovett.

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