Porträt:Wie viel "Vice" in Laura Himmelreich steckt

Porträt: Neue Zielgruppe: Laura Himmelreich soll bei Vice.com die berühmten Millennials, Menschen zwischen 18 und 34 Jahren, erreichen.

Neue Zielgruppe: Laura Himmelreich soll bei Vice.com die berühmten Millennials, Menschen zwischen 18 und 34 Jahren, erreichen.

(Foto: Grey Hutton, VICE Media)

Laura Himmelreich ist mit ihrer "Stern"-Geschichte über Rainer Brüderle und ein Dirndl sehr bekannt geworden. Nun wird sie Chefin von Vice.com - und fühlt sich gut gewappnet.

Porträt von Katharina Riehl

Vor einigen Wochen ist das publizistische Vermächtnis der Journalistin Laura Himmelreich mal wieder kurz Teil der aktuellen Debatte gewesen. In seiner Kolumne bei Spiegel Online schrieb Jan Fleischhauer einen Text mit der durchaus verwegenen These, die Stärke der AfD stünde in direktem Zusammenhang mit jenem Text, den die Reporterin Himmelreich 2013 im Stern geschrieben hatte.

Diese hatte in einem Porträt des damaligen FDP-Spitzenkandidaten Rainer Brüderle beschrieben, wie dieser sich (aus seiner Sicht vermutlich wohlwollend) über ihr Dekolleté geäußert hatte ("Sie können ein Dirndl auch ausfüllen"). Was folgte, war eine beispiellose Debatte - über Sexismus im Alltag und in der Politik, über journalistische Umgangsformen und über den Zustand der Krisenpartei FDP.

Die AfD-These ist vermutlich Unsinn, aber jener Text zeigte sehr deutlich die Hartnäckigkeit dieser Geschichte, die sowohl Rainer Brüderle als auch Laura Himmelreich anhaftet wie ein Kaugummi einem Haarbüschel. Und dass sich daran aller Voraussicht nach auch dann erst einmal nichts ändern wird, wenn die politische Reporterin aus der Hauptstadtredaktion des Stern nun zum 1. Juni den Job, nein: die journalistische Welt wechselt.

Es ist ein warmer Frühlingstag in Berlin-Mitte, Laura Himmelreich, 32, sitzt auf einer Bierbank hinter dem Gebäude ihrer neuen Redaktion, das genauso sehr nach Hipster-Hauptstadt aussieht, wie man es von der Marke dahinter erwarten würde. In den hohen Betonräumen mit Industrielampen arbeitet die deutsche Redaktion von Vice, Laura Himmelreich wird Chefredakteurin von Vice.com, einer Webseite, von der nicht alle Kollegen beim Stern je gehört haben dürften. Aber sie wird auch: Chefredakteurin bei einer der erfolgreichsten Medienfirmen der Gegenwart. Auch wer nichts hält vom Abgesang auf die alte Magazinwelt, wird zugeben müssen, dass Vice zumindest ein wichtiger Teil der medialen Zukunft sein wird. "Ich wollte nicht weg vom Stern", sagt Laura Himmelreich, "ich wollte zu Vice".

Vice bezeichnet sich selbst als "das größte globale Jugendmedienunternehmen", 38 Büros betreibt man weltweit, Rupert Murdoch ist seit 2013 beteiligt, ebenso wie Disney. Die Geschichte des Medienimperiums mit Magazin, unzähligen Webseiten, einer Produktionsfirma für Dokus, die in den USA etwa HBO beliefert und in Deutschland das ZDF und Arte, mit einer Agentur für "Branded Content", also Werbeformen, und neuerdings auch mit einem eigenen Fernsehsender begann 1994. Zunächst gab es ein Stadtmagazin mit dem Titel Voice of Montreal, das später in Vice (deutsch: Laster) umbenannt wurde und nach New York zog.

Heute macht das gedruckte Magazin, das weltweit mehr als eine Million Mal kostenlos in einschlägigen Hipster-Läden ausliegt, nur noch drei Prozent des Unternehmens aus. Himmelreich wird bei Vice.com eine Redaktion von zwölf Leuten führen, ein deutlich größeres Team als das beim gedruckten Magazin.

Jedes Thema ist ein Thema

Vice ist im Netz, im Fernsehen, im gedruckten Magazin irre erfolgreich mit einem Journalismus, der anderswo so nicht denkbar wäre: radikal subjektiv, oft aus der Ich-Perspektive erzählt, vollkommen frei von Berührungsängsten mit Menschen und Themen. Geschichten auf Vice.com heißen: "Mein Vater hat meine Schwestern sexuell missbraucht, und ich habe ihn dafür ins Gefängnis gebracht." Bei Vice ist grundsätzlich jedes Thema ein Thema, Hauptsache, es interessiert.

Porträt: Vice - zu Deutsch "Laster" - wurde 1994 als Stadtmagazin in Montréal gegründet. Inzwischen gehören weltweit Webseiten, TV-Sender und eine Werbeagentur zur Firma. Hier die Berliner Redaktion.

Vice - zu Deutsch "Laster" - wurde 1994 als Stadtmagazin in Montréal gegründet. Inzwischen gehören weltweit Webseiten, TV-Sender und eine Werbeagentur zur Firma. Hier die Berliner Redaktion.

(Foto: Grey Hutton, VICE Media)

Für die wohl berühmtesten Geschichten - den Besuch des Basketballers Dennis Rodman in Nordkorea, bei dem er Kim Jong-un kennenlernte, oder die Reportage aus dem Inneren des IS - ist Vice wegen seiner Respektlosigkeit immer bewundert und oft heftig für sein naives Herangehen kritisiert worden. Bewundert auch, weil Vice eine Zielgruppe erreicht, mit der sich die meisten etablierten Medien sehr schwertun: die Millennials, die 18- bis 34-Jährigen.

Man möchte natürlich wissen an diesem sonnigen Tag in Berlin, wie viel Vice denn nun steckt in der Journalistin Laura Himmelreich - und wie viel ihr neuer Chefposten mit dieser einen, für den Stern ungewöhnlich subjektiven Geschichte zu tun hat, mit der das Magazin vor drei Jahren einen fast schon Vice-mäßigen Rummel verursacht hat. Laura Himmelreich, die vermutlich gelernt hat, sich nicht auf den einen Text reduzieren zu lassen, sagt: "Das Brüderle-Porträt war nicht die Geschichte von mir, die am besten zu Vice passt. Das war vermutlich mein einwöchiger Selbstversuch bei Scientology. Aber weil das nur eine Übungsreportage auf der Journalistenschule war, ist sie nie irgendwo erschienen."

Ist sie gewappnet, so etwas noch mal zu machen? Sie lacht, möglicherweise etwas gequält

Ganz falsch ist die Vermutung, dass der Brüderle-Ruhm Laura Himmelreich beim Weg zu Vice eher genutzt als geschadet haben könnte, wohl trotzdem nicht. Irgendwann während des Gesprächs setzt sich Tom Littlewood mit an den Biertisch auf der Wiese, er ist Chefredakteur von Vice Deutschland, er hat Laura Himmelreich den Job angeboten. Weil sie ein bisschen prominent ist? Nein, sagt er, "aber ich finde, dass dieser qualitativ sehr gute Artikel gezeigt hat, dass Laura eine Person ist, die klare Haltung zeigen kann, wenn es angebracht ist." Diesen Mut zu haben, gehöre zur DNA von Vice. "Dass Laura die Erfahrung hat, wie wahnsinnig viel so ein Artikel bewegen kann, dass sie diesen ganzen Prozess durchlaufen hat, damit ist sie jetzt noch viel besser gewappnet, so etwas noch mal zu machen."

Laura Himmelreich lacht an dieser Stelle, möglicherweise ein kleines bisschen gequält. Sie sagt: "Abgehärtet hat mich die Debatte auf jeden Fall. Ich habe definitiv keine Angst davor, bei Vice Geschichten zu machen, die kontrovers sind. Ich kann allerdings gut darauf verzichten, dass mein eigenes Gesicht noch mal auf der Titelseite der Bild landet." Sie wechselt nun zu einem Unternehmen, das vom professionell gemachten Krawall sehr gut lebt. Und weiß so gut wie wenige andere deutsche Journalisten, wie anstrengend journalistischer Krawall das Leben machen kann.

Laura Himmelreich und Rainer Brüderle haben nach jener berühmten Geschichte übrigens nie wieder ein persönliches Wort miteinander gewechselt und werden sich doch nicht los. Wer den FDP-Politiker googelt, erhält als dritten Vorschlag der Suchmaschine das Wort Dirndl.

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