Fünf Jahre ist es her, dass Thomas Orthofer seine Welse und Neonsalmler eines Nachts vor dem Ersticken bewahrte. Es war drei Uhr, als ein Plätschern ihn weckte. Er hatte es trotz seiner Oropax gehört, ohne die er nicht schlafen kann. Das Plopp-Plopp führte ihn zu seinem Aquarium, durch dessen hintere Scheibe ein langer Riss verlief. Schnell holte er Eimer herbei, um die Tiere mit dem Kescher umzusetzen.
Mit seinem empfindlichen Gehör rettet Thomas Orthofer nicht nur Fische. Als Toningenieur bei Arri in München hört der 48-Jährige Filme an, bevor sie im Fernsehen, im Kino oder bei Streamingdiensten laufen. Seit acht Jahren filtert er als Chef-Nachhörer Geräusche heraus. Quality Control Sound Engineer heißt sein Job im neudeutschen Filmbranchen-Sprech.
"Wenn ich meine Mutter besuche, stört mich das Summen ihres Kühlschranks."
Wenn Orthofer die Regler in seinem Studio an der belebten Türkenstraße bedient, ist er meist allein. An den Wänden klebt Schallschutz, die Klimaanlage stellt er aus, um in Ruhe arbeiten zu können. In seiner dunklen Hornbrille spiegeln sich die drei Bildschirme auf seinem Schreibtisch; aus den fünf Boxen um ihn herum dröhnen die Sounds der deutschen Fernseh- und Filmlandschaft: Tannbach, Die Wanderhure, Rosamunde Pilcher, Fack ju Göhte. Auch die Netflix-Serie Dark hörte er in seinem Studio. Orthofer arbeitet für Arri in der Postproduktion. Die Münchner Firma stellt Filmausrüstung her und verleiht sie, aber bearbeitet eben auch Filme und Serien.
Auf seinem Schreibtischstuhl lauscht er einer Szene aus Rosamunde Pilcher. Der Plot: Er hat sie betrogen, jetzt schmeißt sie ihn raus. Auch bei Pilcher, wie Orthofer die ZDF-Reihe nennt, ist nicht immer alles rosarot. Er wiederum lebt hier einen Jobtraum: den ganzen Tag Filme und Serien anschauen. Doch von den Handlungen bekommt Orthofer meist nicht viel mit. Für ihn sind die Bilder und Töne vor allem Arbeitsmaterial. Will er wissen, warum der Mörder zuschlägt oder wie genau das Liebespaar zueinanderfindet, muss er die Filme in seiner Freizeit anschauen. Wenn er mal ins Kino geht, dann meist in solche, an denen er gearbeitet hat. "Um zu schauen, wie der Sound außerhalb vom Studio wirkt oder weil mich ein Thema oder ein Schauspieler neugierig gemacht hat", sagt er.
"Da, ein Plopp!" Orthofer stoppt das Material. Ein paar Klicks auf einem seiner Bildschirme mit den bunten Tonspuren und das Störgeräusch ist verschwunden. "Klassisch sind Knackser, Crackles oder Plopps", sagt er. Orthofer kennt Worte und Vergleiche für all das, was andere noch nicht einmal hören. "Ein Plopp klingt wie ein leiser Sektkorken."
Die ZDF-Zuschauer sind im Schnitt 62 Jahre alt, im Ersten sind sie ein Jahr jünger. Man könnte meinen, dass die Töne für öffentlich-rechtliche Produktionen daher lauter produziert werden. "Die Lautstärke an sich ist gar nicht das Thema", sagt Orthofer. "Es geht darum, für jedes Ausgabemedium die optimale Mischung zu erstellen, also Geräusche, Dialoge und Musik aufeinander abzustimmen. Die Sprache einfach lauter zu machen, führt dabei nicht unbedingt zu einem besseren Resultat."
Orthofers Job ist es, die Fehler von anderen zu finden und weiterzugeben. Neben der deutschen Fassung muss er auch die ausländischen Versionen anhören. Wenn er einen Knackser oder eine asynchrone Stelle, an der Ton und Bild nicht zusammenpassen, behoben hat, dokumentiert er das in einer Tabelle. Nach ihm landen die Filme noch bei seinen Kollegen, die nach Fehlern im Bild suchen. Dann gehen sie an die Sender und die Produktionsfirmen zurück und werden erst anschließend veröffentlicht.
Wenn es gut läuft, schafft Orthofer so einen Film am Tag. Wenn es schlecht läuft, braucht er dafür eine Woche - und die ist streng getaktet, wie ein klassisches Musikstück. An vier Tagen hört er sich bei Arri durch Filme und Serien. Am fünften Tag, immer montags, gibt er Geigenunterricht. Orthofer hat an der Musikhochschule in München studiert und im Staatsorchester Hannover sowie bei den Hamburger Symphonikern gespielt. Weil er keine Lust mehr hatte, ständig umzuziehen, fing er 2005 bei Arri an.
Abends, nachdem Orthofer in seine Wohnung geradelt ist und die Fische gefüttert hat, läuft häufig der Fernseher. Den Ton stellt er auf fast stumm - weniger aus Rücksicht auf seine Nachbarn als vielmehr seinem Gehört zuliebe. Orthofer schont es, wann immer er kann. Er benutzt schon seit Jahren keine Wattestäbchen mehr und lässt seine Ohren nur noch vom Arzt reinigen. Auf Konzerte geht er stets mit Oropax oder knüllt, wenn er die mal vergessen hat, ein Stück Papiertaschentuch zusammen. Sein sensibles Gehör ist seine Arbeitsgrundlage, es strengt ihn aber auch an. "Wenn ich meine Mutter besuche, stört mich das Summen ihres Kühlschranks", sagt er.
Orthofer arbeitet täglich mit Algorithmen - wo seine Kollegen früher noch mit der Schere Bänder schneiden mussten, klickt er sich heute am Computer durch Tonspuren. Dass ihn eine Maschine bald ersetzen könnte, glaubt er allerdings nicht. Auch Hans Schlosser vom Verband Deutscher Tonmeister meint, dass vieles nur der Mensch könne. "Man kann eine Maschine zwar schon so programmieren, dass sie bei Live-Übertragungen im Fernsehen die Asynchronität von Ton und Bild erkennt und automatisch verbessert", sagt er. "Doch ein Voiceover beispielsweise: Die Aufnahme einer deutschen Stimme über eine englische Filmszene zu legen - dazu braucht es das menschliche Ohr und Auge," sagt Schlosser.
Thomas Orthofer drückt auf Play und hört bei Rosamunde Pilcher Autoschlüssel klimpern und eine Tür zuknallen. Sie hat ihn wirklich rausgeworfen. Orthofer lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Seine Ohrmuscheln scheinen zu wachsen, wenn er so lauert und auf ein Geräusch wartet, um gleich zuzuschlagen und zurückzuspulen, um die Knackser und Plopps zu beheben, bis er seine nächste Serienepisode, seinen nächsten Film beenden kann. Orthofer wird weiter zwischen seinen Boxen sitzen. Er wird weiter jagen.