Polizeireporter in Mexiko:Jede Stunde Tote, überall

Kein Ort ist so blutig wie Ciudad Juárez in Mexiko. Reporter zwischen den Fronten der Drogenkriege zensieren sich selbst - oder arbeiten wie Lucy Sosa unter ständiger Bedrohung.

Peter Burghardt

Der erste Mord des Tages wird gegen 13 Uhr gemeldet, vergleichsweise spät für Ciudad Juárez. Polizeireporterin Lucy Sosa und zwei Fotografen sitzen in einem Kleinwagen der Zeitung El Diario, der Schriftzug steht an den Türen. Sie ändern sofort die Richtung, als die Nachricht eintrifft. Eigentlich wollten sie den Friedhof im Süden der Grenzstadt im Norden Mexikos ansteuern, um mit den Totengräbern über die vielen namenlosen Leichen zu sprechen.

Lucy Sosa, Polizeireporterin aus Mexiko

Seit 22 Jahren bestimmen erschossene, geköpfte und zerhackte Menschen den Arbeitsalltag von Polizeireporterin Luys Sosa.

(Foto: Peter Burghardt)

Aber der Termin muss warten. Gerade haben wieder die Handys geklingelt, ein Informant gab ein mögliches Verbrechen durch. Eine Ejecución, eine Hinrichtung, so heißt das in der Sprache des Drogenkrieges. "Jede Stunde Tote, überall", sagt Lucy Sosa, eine stille Frau Anfang vierzig. Seit 22 Jahren macht sie den Job, so viel zu tun hatte sie nie. Der Fahrer gibt Gas, der Wind weht wie aus einem Fön durchs offene Fenster, 38 Grad draußen.

Die Reise führt über breite Straßen, zwischen Pickups, Jeeps, Trucks. Zuweilen rauschen Polizei und Armee vorbei, die Gewehre im Anschlag, die Gesichter vermummt. Ciudad Juárez sieht aus wie eine Mischung aus Militärlager und verstaubtem nordamerikanischen Stadtrand, nebenan liegt El Paso, Texas. Die Journalistin Sosa kann an den meisten Ecken eine Episode des Grauens erzählen. Anderswo würden Besucher auf Sehenswürdigkeiten hingewiesen: Schau' mal, dieses Museum, jene Kirche. Hier geht es so: Drüben am Bestattungsinstitut wurde der Bruder eines Ermordeten umgebracht, vorne an der Bank wurden drei Menschen erschossen und in der Disco Platinum sechs. Hinten in der Bar Hooligans haben sie den Wirt niedergemetzelt, von der Brücke hing ein Enthaupteter. Gewöhnlich waren es Rauschgiftdealer, und ihre Killer. Oder Polizisten. "Unglaublich, die Zahl der Toten", sagt Lucy Sosa auf dem Weg zum nächsten Toten.

Erschossen, geköpft, zerhackt

Manchmal fragt sie sich, wieso sie nicht Architektin ist oder Kassiererin im Supermarkt. Stattdessen berichtet sie für das Lokalblatt El Diario von der Front. Andere gehen zum Stadtrat oder ins Fußballstadion - sie fährt zu Erschossenen, Geköpften, Zerhackten, Begrabenen. Bis Mitte August waren es in diesem Jahr mehr als 1800 Drogenmorde im Tal von Juárez, wo sich das Juárez-Kartell mit den Herausforderern aus Sinaloa und dem feindlichen Teil der Staatsmacht bekämpft.

Es geht um Kokain, Marihuana und Pillen für einheimische Kunden und den großen Markt USA. Zuletzt starben in dem Gefecht täglich acht bis zehn der 1,3 Millionen Bewohner. In ganz Mexiko sind es 28.000 Opfer seit 2006, obwohl landesweit 50.000 Soldaten und Polizisten angerückt sind, 10.000 davon hier. Die Gewalt gehörte auch früher schon zur Kultur, aber der Terror begann vor wenigen Jahren. Beobachter wie Lucy Sosa sind Zeugen einer Schlacht, und ihr ständiger Begleiter ist die Gefahr.

Mexiko gilt mit 64 toten und elf verschwundenen Journalisten in zehn Jahren als eines der riskantesten Reviere für diese Berufsgruppe weltweit. Wie Honduras, Guatemala und Kolumbien, die ebenfalls unter dem Gemetzel leiden. Ciudad Juárez hat die höchste Mordrate des Planeten, Nuevo Laredo und Culiacán sind auch nicht viel sicherer. Lucy Sosa packt zehn Verbrechen oft in einen Beitrag. Sie war bei vielleicht 700 Beerdigungen, "ich kenn' die Lieder der Messen auswendig".

Der Schrecken wird zur Routine und bedroht auch sie. Sie weinte vor dem Sarg ihres Freundes und Kollegen. Armando Rodríguez, genannt Choco, wurde 2008 von Unbekannten in seinem Fahrzeug niedergestreckt, weil er einer Bande zu unbequem wurde. Die Täter hat man wie üblich nie entdeckt. Ein Plakat mit seinem stilisierten Gesicht hängt am Redaktionsgebäude von El Diario im Zentrum. "Wir fordern Gerechtigkeit für Choco", heißt es darauf, und: "Ohne Journalisten gibt es keine Demokratie."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum größere Polizeipräsenz den Jounalisten mehr schadet als nützt.

Tödliches Berufsrisiko

Die Hüter der Demokratie werden getötet, verletzt, entführt, eingeschüchtert, benutzt. In der Region Guerrero fielen ein Korrespondent von El Sol de Acapulco und seine Frau im Kugelhagel, hier im Bundesstaat Chihuahua trafen tödliche Projektile einen Radiomann. In Durango verschleppten Söldner vier Berichterstatter, als sie vor einem Gefängnis filmten, aus dem heraus Auftragsmörder zum Massenmord bei einer Party aufgebrochen waren. Tage später kamen die Vermissten frei, vorher mussten sie Botschaften der Mafia verbreiten. Gegen Mitstreiter von Lucy Sosa wurden kürzlich Warnungen an Wände geschmiert. Und ein Kameramann, mit dem sie zusammen gearbeitet hatte, überlebte ein Attentat mit Splittern im Leib. Er dokumentierte, wie im Juli in Ciudad Juárez eine Autobombe zwei Polizisten, einen Arzt und einen Sanitäter zerriss. Sein Video überstand den Anschlag ebenfalls, es wurde auf YouTube Zehntausende Male angeklickt.

Die Bundespolizisten sind auch kein Schutz für die Medien, eher Gegner. Mexikos Präsident Felipe Calderón hat sie geschickt, damit wurde alles noch schlimmer. Gut, es gibt Festnahmen. Doch viele Beamte sind korrupt und stehen bei Kriminellen im Sold, ein Kontingent von Uniformierten hat sich gegenüber von El Diario im Hotel Fiesta Inn einquartiert. "Die Gesellschaft ist Geisel, die Behörden sind unfähig", klagt Lucy Sosa, "die Strategie des Staates ist gescheitert." Sie selbst warf sich dreimal in Schießereien auf den Boden, Patronenhülsen stehen an ihrem Schreibtisch. Über Drohungen sagt sie nichts, das sind heikle Themen. Bislang halfen Instinkt, Erfahrung, Vorsicht, Glück, Geschick. Und die Narcos, die Drogenhändler, brauchen die Chronisten des Horrors auch. Weil ihre Grausamkeiten nur in Bild, Ton und Schrift ein größeres Publikum erreichen und ihre Wirkung erzielen.

Selbstzensur aus Selbstschutz

In manchen Gegenden recherchiert trotzdem niemand mehr, zu gefährlich. Andere fügen sich der Selbstzensur. Lucy Sosa sagt: "Ich schreibe Tatsachen, keine schön geschriebenen Phantasiegeschichten." Nicht so wie manche Sondergesandte, die kurz vorbeischauen und schnell wieder verschwinden. Nur eine wichtige Trauerfeier ließ sie aus, damals, im Januar waren 17 Schüler und Studenten bei einem Geburtstagsfest im Ortsteil Villas de Salvárcar erschossen worden.

Die jungen Toten erinnerten die alleinerziehende Mutter zu sehr an ihren eigenen Sohn, um den sie sich ständig Sorgen macht. Sie konnte nicht. Der Abdruck einer blutigen Hand auf einer Mauer ist ein Symbol dieses Massakers - und das Cover eines schmalen Bandes, den El Diario mit Momentaufnahmen des Dramas von Ciudad Juárez gefüllt hat, Titel: "Die anderen Schlachten". Einer der Fotoreporter hat früher Sportveranstaltungen geknipst, Kriminalthemen findet er spannender.

Der mutmaßliche Tatort rückt näher. Lucy Sosa sagt, sie sei wütend ob des ganzen Wahnsinns. Und natürlich habe sie Angst. Sie könnte wegziehen oder das Ressort wechseln. "Aber jeder hat seine Mission. Meine ist es zu informieren." Es geht ihr um ihren Beruf und um Ciudad Juárez, ihre Stadt mit dem verheerenden Ruf. Gegen 15 Uhr will sie wieder im Büro sein, um 19 Uhr ist Redaktionsschluss. Das Trio im Auto schweigt, lacht, telefoniert. Bei grässlichen Fällen wird viel geredet, Therapie. Ansonsten bemüht man sich um Normalität. Kauft Wasser und Chips an einer Tankstelle. Einer hört mit Kopfhörern Musik. Lucy gähnt, Hitze und Stress machen müde. Sie hat durchgesetzt, dass ihre Abteilung zu Kursen darf und lernt, wie man am besten in Deckung geht. Oder wie die neuen Verfahren der mexikanischen Justiz funktionieren. Sie sind alle schlecht genug bezahlt und schlecht genug versichert.

Nach einer halben Stunde Vollgas hoppelt der Zweitürer von El Diario hinter Schrottplätzen über einen Feldweg zwischen Schuppen und Salatbeet. Konkurrenzblätter und Fernsehsender sind bereits da. Televisa, Canal 44, Cadena tres, El Norte. Man informiert und hilft sich, für zu viel Konkurrenz ist das alles zu gefährlich. Ein Moderator mit Anzug und Mikrofon verteilt Bonbons. Es wachen Polizisten mit Schnellfeuerwaffen und Wollmasken, alles in schwarz, die Sonne brennt senkrecht.

Der Tote liegt unter einer Plane auf dem Acker, daneben parkt ein Leichenwagen. Ein natürlicher Tod, zu viel Alkohol, heißt es plötzlich. Kommt vor, selten. Meistens trifft man sich vor zersiebten Fahrzeugen und durchlöcherten Menschen. Fehlalarm, die Branche packt zusammen. "Wir sehen uns, Jungs", ruft eine Frau vom Fernsehen. Man sieht sich, jeden Tag. Nachher melden Anrufer den nächsten Mord, ein Geköpfter an einem Zaun, da schreibt Lucy Sosa schon.

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