Süddeutsche Zeitung

Politischer Journalismus:Wenn die Koalitionskrise zur Telenovela wird

Alles Prozess, nichts Ergebnis: Was und wen befriedigen es eigentlich, wenn über jede Wendung in der Politik sofort berichtet wird? Und vor allem: Was macht das mit der Politik? Ein paar Gedanken.

Von Cornelius Pollmer

Als am Sonntag um 23:02 Uhr die Glocke der Tagesthemen schlug, da wäre man am besten hinaus in die Nacht gerannt und hinein in die nächste Kirche, um dort eine Kerze anzuzünden. Eine Kerze für den medialen und politischen Betrieb dieses Landes, vielleicht auch eine für das Land selbst oder seine Regierung, am liebsten aber eine Kerze für Caren Miosga. Man sah die Moderatorin im Studio stehen, sie spickte irritiert auf eine Karte, ihre Mundwinkel sackten gefährlich ab, dann schließlich blickte sie auf - und es wäre nun nicht verwunderlich gewesen, hätte Miosga statt einer Anmoderation nur jene drei Buchstaben über die Lippen gebracht, hinter denen im Alphabet der Nato die Begriffe Whiskey, Tango und Foxtrott zu finden sind.

Ein eigentlich herrlicher Sommertag war gerade zu Ende gegangen, die Mehrheitsgesellschaft war Bötchen fahren oder Baden oder auch nur ein Eis essen gewesen. Politik und Medien wie auch der suchtgeneigte Teil des Publikums aber erlebten diesen Tag anders. Sie erlebten einen Tag in der unbestimmten Spannung eines Wetterumschwungs, einer Spannung, die sich im Abend nicht etwa entlud, sondern auf eigentümliche Weise weiter anstieg. Überall Warten, überall Wendungen. Und überall journalistische Härtefälle wie jener im ZDF heute journal. Am Ende der Schalte berichtete die mit einem Agenturticker bewaffnete Marietta Slomka (im Studio) dem Kollegen Jürgen Bollmann (in der CSU-Parteizentrale), was bei ihm vor Ort gerade wohl passiert sei. Eine Kerze also auch für Jürgen Bollmann, besser gleich zwei.

Lieber nichts mehr twittern

Alles an diesem Sonntag war Prozess, nichts wurde Ergebnis. Und alles Sekundäre für diesen Prozess wurde im Internet sekundengleich ausgeliefert: Analyse und Kommentierung, Häme und Ironie. Insofern hätte wirklich nichts besser ins Finale dieses Tages gepasst als der somnambule Auftritt Horst Seehofers, der als, naja: Ergebnis einen weiteren "Zwischenschritt" vorschlug. Da waren selbst die treuen Begleiter der Nacht längst zu müde, um noch zu googlen, ob das mit dem geschlossenen Vorhang und den offenen Fragen nun von Brecht oder vielleicht doch von Shakespeare war. Lieber nichts mehr twittern.

Zum Aufstehen am Montag hatte die verlässlich bigotte und verlässlich gnadenlose Bild schon einen Gewaltschuss der morgenmüden Kanzlerin auf die Seite gehoben. Keine Entladung, weiter Spannung. Wer dann ein paar Stunden pausierte und erst am Abend wieder einstieg, der konnte auf Phoenix einen dankbaren Moderator sehen, dem ein weiteres Zucken Seehofers gerade die nächste Schalte gerettet hatte: "Jede Weiterentwicklung ist gewünscht, ist angenehm." Es folgte Unter den Linden und dort bereits in der Anmoderation eine erstaunliche Breaking-News-Routine. Willkommen also, "abermals muss ich sagen: in bewegten Zeiten". Der Dienstag? Undsoweiterundsofort. Und zwischendrin eine weitere, kaum mehr messbare Zeitverschiebung Seehofers. Sein Rücktrittsgerassel sei doch "scho wieder Geschichte". Es stellt sich ganz ernsthaft die Frage, was und wen sie eigentlich befriedigt, die lückenlose Begleitung und Erzählung von Politik als Prozess? Und auf wessen Kosten wir, Produzenten wie Publikum, dieser Erzählung so viel Raum geben.

Journalisten sind, das hat die NZZ kürzlich treffend formuliert, "Gegenwartsfiguren". Sie leben mit und in den Nachrichten, "und sie gehen mit ihnen". Für Politikjournalisten gilt dies womöglich in besonderer Weise. Politikjournalismus lebt mehr noch als andere Bereiche von Entwicklung, von der graduellen Veränderung. Er sagt, sie sagt, jene reagieren. Dieses Prinzip ist im Grunde ein gutes, weil es hilft, Gemengelagen zu ordnen, Argumente und Positionen herauszuarbeiten, und: Fortschritt in der Sache zu begünstigen. Diese Prinzip aber verträgt sich nicht immer gut mit dem, was seit einigen Jahren Politik wie Medien verändert und das ist: Technologie.

Eine Frage bleibt: Auf wessen Kosten ist das in diesen Wochen aufgeführte Dramolett produziert worden?

Der Prozess, der Politik schon immer war, wird nun umfangreicher denn je abgebildet, was nicht heißen muss: genauer. Es steht zu befürchten, dass genau das den Prozess selbst verändert. Das mochte noch naja-nebensächlich erscheinen, als nach den gescheiterten Verhandlungen zu einer Jamaika-Koalition einige Beteiligte das Twittern der Verhandler als mitursächlich für das Scheitern ausmachten. Problematisch aber wird es, wenn die Aufmerksamkeit sich deshalb verschiebt, von Sachen auf Personen, von Realpolitischem auf Atmosphärisches. Genau dies ist gerade in beunruhigender Weise zu beobachten.

Es war kein Zufall, dass der Komplex Merkel-Seehofer in den sozialen Netzen verarbeitet wurde wie ein WM-Spiel, von Rechtsaußen-Analogien bis zum Hashtag #MERSEE. Die Analogien funktionierten einfach zu gut, die Sachverhalte schienen wenn nicht wirkungsgleich, so doch wesensähnlich zu sein. Nur: In der Politik geht es um sehr viel mehr als im Sport. Als Live-Übertragung mag sie gegen eine Langeweile helfen, die man sich leisten können muss. Bestimmt hilft sie auch den Quotentabellen und Klickstatistiken. Nur: Dient der Rausch etwas anderem als dem Zeitvertreib? Bedeutet das Mehr an Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit für Politik ein Mehr an Erkenntnis? Mitnichten.

Damit wären wir bei der Frage, auf wessen Kosten das in diesen Wochen aufgeführte Dramolett produziert worden ist. Da fällt einem zunächst ein: auf Kosten anderer Themen. Klimawandel, Pflegenotstand, Insektensterben, Mietmarkt-Irrsinn - und das sind jetzt nur die Hits. Unter den technologischen Gegebenheiten der Zeit werden Themen belohnt, die erzählbare Entwicklungsschritte anbieten können. Eitelkeiten, Persönliches, Zerwürfnisse lassen sich täglich neu inszenieren. Der Klimawandel muss mit der immer selben Kurve Richtung Weltuntergang hausieren gehen.

Wenn Politik in dieser Weise zur Telenovela schrumpft und in der Sache am Ende kaum etwas passiert, wem schadet, wem nützt das? Langfristig kann die Entwicklung nur maximale Erschöpfung zeitigen, vor allem der Wahlberechtigten, die sich mit einiger Nachvollziehbarkeit vom politischen wie medialen Betrieb in noch stärkerem Maße abwenden. Und damit noch einmal kurz zum Sport. Vor vielen Jahren schrieb die Band Fettes Brot mit Kollegen das Lied Fußball ist immer noch wichtig, es erzählt die Geschichte einer Wiederentdeckung des Sports nach großer Entfremdung. Es braucht jetzt: - nein, es braucht jetzt ganz bestimmt kein solches Lied über die Politik. Es bräuchte so etwas wie Besinnung.

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Quelle:
SZ vom 04.07.2018/cag
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