"Politico":Adieu

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Mit seinem Brüsseler Newsletter des Online-Magazins Policito wollte Ryan Heath „die EU sexy machen“. Kein Reporter in Brüssel hat mehr Twitter-Follower unter den 751 Europaabgeordneten als Heath – genau 152.

(Foto: Arte)

Ausgerechnet ein Australier gilt als der einflussreichste Journalist des EU-Politbetriebs. Ein Treffen mit Ryan Heath, der gerade sein Büro in Brüssel räumt

Von Matthias Kolb

Werktags gibt es unter den Brüsseler Abgeordneten, Diplomaten, Journalisten und Lobbyisten ein Ritual am frühen Morgen. Spätestens um sieben Uhr landet das "Brussels Playbook" in den E-Mail-Postfächern von knapp 90 000 Lesern. Der Newsletter versorgt sie mit Nachrichten über EU-Politik, den wichtigsten Terminen des Tages, Lesetipps und einer Portion Gerüchten. Der Journalist hinter dem Brüssler Kult-Newsletter heißt Ryan Heath.

Im April 2015 hatte er begonnen, den in Washington bereits legendären "Playbook"-Newsletter auf die Belange von Europas Polit-Hauptstadt zu übertragen. Neben der Auflistung von Geburtstagen und Tipps für gute Cafés in der Gegend lebt der Newsletter von exklusiven Informationen und klugen Gedanken.

Der Druck war groß. Das Online-Medium Politico , für das Heath seit vier Jahren arbeitet, war 2007 in Washington mit einem Ziel gegründet worden: Seine Autoren sollten so schnell, detailliert und unterhaltsam über Politik berichten, wie es der Kabelsender ESPN über Sport tut. Der Vergleich passte, in den Anfangsjahren ging es vor allem um Sieg oder Niederlage.

Welcher Politiker gerade an Macht gewonnen hat, interessierte mehr als die Folgen für den Alltag der Bürger. In den USA wurde das "Playbook" zu dem Newsletter, den im Weißen Haus morgens alle lesen. Genau das wollte der Australier Ryan Heath mit seinem Brüsseler Newsletter auch schaffen und zugleich: "die EU sexy machen". Vier Jahre später ist er einer der einflussreichsten Journalisten in Brüssel, seinen Namen kennt hier jeder und eine Analyse seiner Redaktion hat einmal aufgezeigt, dass kein Reporter mehr Twitter-Follower unter den 751 Europaabgeordneten hat als Heath (es sind 152).

"Alles wird jünger, weiblicher und sogar etwas vielfältiger"

Ryan Heath, 39, sitzt in Shorts und Einhorn-T-Shirt in der Politico-Redaktion, wenige Minuten entfernt von Europaparlament, EU-Kommission und Ratsgebäude. Die 68 Reporter arbeiten hier dicht beieinander, als einer von wenigen hat Heath ein Einzelbüro. Er räumt es gerade, denn mit seinem Ehemann verlässt er Brüssel. Künftig soll er von den USA aus dafür sorgen, dass Politico internationaler wird. Was sich getan hat in seiner Zeit in Belgien?

"Brüssel und die EU-Institutionen ändern sich endlich", sagt Ryan Heath. "Alles wird jünger, weiblicher und sogar etwas vielfältiger." Es sei aber noch immer erstaunlich, wie männlich dominant und wenig divers es in Brüssel zugehe. Auch deshalb lobt er die designierte Kommissionschefin Ursula von der Leyen für das Vorhaben, genauso viele Frauen wie Männer in die Kommission zu holen. Diese Symbolik findet er enorm wichtig: In den ersten 30 Jahren seien die Kommissare nur Männer gewesen, von 183 Kommissaren seit 1958 waren nur 35 Frauen. Die ersten Schritte von der Leyens in Brüssel hat er in seinem letzten Text aus Europa beschrieben. Sein Urteil lautet: "Unterschätzt Ursula nicht."

Als er vor gut vier Jahren mit seinem "Brussels Playbook" anfing, wurde es sofort zur Pflichtlektüre der Stadt. Zum "must read" für die "Playbook Community", wie es Mike Allen, der Erfinder des Washingtoner Originals, formuliert. Allen galt dank des US-Playbooks jahrelang als "Washingtons mächtigster Journalist". 2007 war er der erste Angestellte von Politico, ein erfahrener Polit-Journalist von der Washington Post. Heath dagegen hatte eine eher ungewöhnlichere Karriere: Er kam mit 23 von Sydney nach London, fand als Journalist ohne Kontakte aber keinen Job. Also fing er in der Kommunikationsabteilung der Regierung von Tony Blair an.

Dass der Australier überhaupt in Brüssel landete, war Zufall. 2007 war kein anderer britischer Beamter bereit, nach Belgien zu ziehen, um Redenschreiber von EU-Kommissarin Nellie Kroes zu werden, erzählt er. Heath wollte anfangs vor allem die üppigen Bonuszahlungen für eine Immobilie in London zurücklegen und war dann begeistert von der Arbeit und dem europäischen Projekt. Er blieb mehrere Jahre bei der Niederländerin, verfasste später Reden für EU-Kommissionschef José Manuel Barroso ("er warf mich nach sechs Monaten raus") und arbeitete als Sprecher der EU-Kommission für digitale Themen. Der Weg von dort zu Politico war nicht einfach, heute gehört die Reaktion der Personalabteilung auf seine Bewerbung zu seinen Lieblingsanekdoten: "Ich wurde völlig ignoriert! Keiner wollte mit mir reden." Doch er blieb dran und ging zu einem Abendessen, an dem seine Mitbewohnerin, die von Politico umworben wurde, nicht interessiert war. Schließlich bekam er seine Chance. Und er nutzte sie.

Er wurde zum Gesicht von Politico in Europa und trat regelmäßig bei BBC, CNN, MSNBC und der Deutschen Welle auf. Ein wichtiger Faktor war seine Präsenz auf Social Media. Allein auf Twitter hat Heath 68 000 Follower. Einmal dokumentierte er dort eine Wette mit dem Chef der Europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer, zum Wahlergebnis der Grünen. Nach der Europawahl musste Heath Bütikofer 74 Dosen und Flaschen Bier überreichen - typisch für Humor und Selbstvertrauen des Australiers. Bütikofer sagt: "An Ryan schätze ich seine Neugier und die analytische Neigung."

Hin und wieder ist in Brüssel der Vorwurf zu hören, dass Politico zu große Nähe zu Tech-Unternehmen pflege und zur Skandalisierung beitrage, auch weil über Klatsch wie Jean-Claude Junckers Nierensteine berichtet wurde. Bütikofer, seit 2009 EU-Abgeordneter, sieht das zum Beispiel anders: "Politico hat den Medienbetrieb nicht nur beschleunigt, sondern bildet ab, dass Brüssel politisch viel zentraler und spannender geworden ist."

Im Newsroom von Politico Europe werden 20 Sprachen gesprochen, Entwicklungen in kleineren Mitgliedstaaten werden oft schnell entdeckt - und diese Texte dann im "Playbook" empfohlen. Für das Unternehmen, das zur Hälfte dem Axel-Springer-Verlag gehört, erfüllt der kostenlose Newsletter einen wichtigen Zweck: Es soll aufmerksam machen auf die Pro-Newsletter, die Details zu Themen wie Brexit, Handel und künstlicher Intelligenz bieten und 7000 Euro aufwärts kosten.

Seit 2017 berichtet er in seinem Podcast über sexuelle Belästigung im Europaparlament

Zusätzlich zum Newsletter startete Heath vor zwei Jahren den Podcast EU Confidential. Darin erzählen EU-Kommissare über ihre Jogging-Routen und Lobbyisten aus ihren Alltag. Heath ist überzeugt, dass das Interesse an EU-Themen wachse, wenn "die menschliche Seite der Entscheidungsträger" gezeigt werde. Er hat sie alle interviewt, von sämtlichen EU-Kommissaren über Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern und den chinesischen Künstler Ai Weiwei bis zu Facebook-Cheflobbyist Nick Clegg. "Ich bin Journalist und werde alle wichtigen Fragen stellen, aber ich lasse alle ausreden und ihre Argumente vorbringen", sagt er.

Besonder stolz ist er darauf, im Podcast seit 2017 kontinuierlich über sexuelle Belästigung im Europaparlament berichtet zu haben. "Ryan hat viel dazu beigetragen, dass über den Sexismus in der europäischen Politik langsam aber sicher geredet wird", sagt die Niederländerin Marietje Schaake, die sich als Abgeordnete gegen zudringliche Männer und Vorurteile wehren musste.

Nach drei Jahren mit Newsletter-Nachtschichten übernahm Heath im März 2018 die Koordination für die Europawahl und übergab das "Brussels Playbook" an Florian Eder, früherer EU-Korrespondent der Welt. Eder will Leser in anderen Hauptstädten finden - in Brüssel hätten schließlich schon nahezu alle Kommissare und EU-Abgeordneten Abonnements.

Und wie geht es für Ryan Heath weiter? In Washington wird er sich erst einmal mit dem US-Wahlkampf beschäftigen. Man wird von ihm lesen.

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