Podcast "Freiheit Deluxe":Sagen, was passiert ist

Podcast "Freiheit Deluxe": Selma Jahić und ihre Mutter - und hinter ihnen die "Feindlinien", wie Jahíc sie nennt.

Selma Jahić und ihre Mutter - und hinter ihnen die "Feindlinien", wie Jahíc sie nennt.

(Foto: Twitter @Selma_Jahic_)

In der jüngsten Podcast-Folge von Jagoda Marinić kommt eine Überlebende des Genozids von Srebrenica zu Wort. Das sollte viel öfter passieren.

Von Marija Barišić

Der vergangene Dienstag war ein wichtiger Tag für die Hinterbliebenen des Genozids in Srebrenica: Der bosnisch-serbische Kriegsverbrecher Ratko Mladić wurde wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt. Als Ex-General war er verantwortlich dafür, dass im Juli 1995 in nur vier Tagen über 8000 bosnische Muslime von serbischen Soldaten brutal ermordet wurden.

Die internationale Presse bejubelte das rechtskräftige Urteil gegen Mladić: "endlich" und "längst überfällig" sei es gewesen. Das ist zwar wichtig, aber auch ein Problem. Denn das Bild des Täters darf die Geschichten der Betroffenen nicht überschatten.

"Ein Kind kann nicht glauben, dass ein erwachsener Mensch einem anderen wehtun könnte"

Wie Berichterstattung über Srebrenica künftig besser funktionieren könnte, hat die SZ-Kolumnistin und Schriftstellerin Jagoda Marinić vorgeführt. In ihrer jüngsten Podcast-Folge von Freiheit Deluxe spricht sie mit Selma Jahić, einer Überlebenden des Genozids, deren beklemmende Geschichte innerhalb weniger Tage mehrere Tausend Menschen im Netz erreicht hat - und das zu Recht.

Jahić selbst war sieben Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder vor dem Genozid in Srebrenica nach Österreich flüchtete. Die ersten Kriegsjahre verbrachte die Familie in einem von serbischen Soldaten eingekesselten Dorf in der Nähe von Srebrenica. Wenn sie im Podcast vom Bombenhagel, vom überall lauernden Tod und der verzweifelten Suche nach Essen erzählt, wirkt es fast wie ein Wunder, dass die Familie überhaupt noch am Leben ist.

Auf einem Bild, das Jahić im vergangenen Jahr auf Twitter gepostet hat und das innerhalb kürzester Zeit mehr als 7000 Mal geteilt wurde, sieht man sie als blondes, pausbäckiges Mädchen, das in die Kamera lacht. Das Bild entstand ein Jahr vor dem Genozid, neben ihr die Mutter im luftigen Blumenrock, hinter ihnen die "Feindlinien" wie Jahić sie nennt, also die Front an serbischen Truppen und Freischärlern, die Angst und Terror unter der muslimischen Zivilbevölkerung verbreitete.

Es gibt sehr viele bedrückende Stellen in diesem Podcast. Die wohl bedrückendste ist aber jene, in der Jahić erzählt, wie sie als Sechsjährige das erste Mal auf "den Feind", also einen serbischen Soldaten, trifft - und aus allen Wolken fällt, weil der gar kein Monster mit Hörnern ist, sondern ein ganz normaler Mensch: "Ein Kind kann nicht glauben, dass ein erwachsener Mensch einem anderen wehtun könnte", sagt sie. Die serbischen Soldaten schicken damals Frauen und Kinder weg, die Männer bleiben zurück und werden erschossen, darunter auch Jahićs Großvater.

Wie wichtig es ist, Gerichtsurteile nicht mit Gerechtigkeit zu verwechseln

Wer sich schon mal mit Srebrenica beschäftigt hat, der weiß, dass Jahić' Geschichte nur eine von vielen Tausenden ist. Der weiß aber auch, wie wichtig es ist, den Hinterbliebenen zu glauben, ihren Schmerz anzuerkennen. Und Gerichtsurteile nicht mit Gerechtigkeit zu verwechseln.

Viele der Überlebenden wissen nämlich bis heute nicht, in welche Massengräber die Leichen ihrer Söhne, Väter, Onkel verscharrt wurden, sie können nur hoffen, dass sie ihre toten Verwandten zeitlebens noch zu Grabe tragen können. Als wäre das nicht schlimm genug, üben sich ranghohe Politiker in Bosnien und Serbien bis heute darin, den Genozid zu relativieren oder ihn gar zu leugnen.

Als gäbe es all die Beweise gar nicht, die Videoaufnahmen, die Gerichtsurteile, die Massengräber. Stattdessen werden Kriegsverbrecher zu serbischen Nationalhelden deklariert und mit Preisen überhäuft. Ihre Provokationen und Relativierungen rund um Srebrenica sind es, die im medialen Diskurs meist im Fokus stehen - um die Perspektive der Angehörigen müssen sich oft die Angehörigen selbst kümmern.

"Der Kampf um die Geschichtsschreibung", nennt Marinić es in ihrem Podcast, in Wahrheit könnte man ihn auch einfach den Kampf um Gerechtigkeit nennen. Für Überlebende des Genozides wie Jahić heißt das in Wahrheit nichts anderes als: Sagen, was passiert ist. Und hoffen, dass möglichst viele zuhören.

Freiheit Deluxe: Selma Jahíc - Never forget Srebrenica, hr2

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