Süddeutsche Zeitung

Phrasenmäher:Lasst uns auf eine Reise gehen

Alles ist heute "eine Reise", egal ob Selbstfindung, Castingshow oder Ironman. Über eine Verharmlosung.

Von Christine Dössel

Neulich ging im Fernsehen mal wieder eine längere Reise zu Ende. Nein, nicht durchs wilde Patagonien oder hin zu Deutschlands schönsten Urlaubszielen. Gemeint ist Heidi Klums Castingshow Germany's Next Topmodel (GNTM), die 16 Folgen zuvor zu einer Kreuzfahrt der Schönheit aufgebrochen war. Oder vielleicht war es auch eine Trekkingtour. Jedenfalls sprachen alle immer von einer "Reise", nie von einem Modelwettbewerb. Und so wurde es auch in den Medien kommuniziert. "Puh, was für eine Reise!", kommentierten aufgeregte Live-Tickerinnen das Finale, und auf Youtube kann man sich die Best-of-Momente von Siegerin Alex anschauen: "So schön war ihre Reise". Ashley wiederum war vor dem Finale freiwillig ausgeschieden, auf Instagram verkündend: "... damit endet meine GNTM-Reise". Eine Reiserücktrittsversicherung schien sie nicht abgeschlossen zu haben. Für andere endete die Reise schon viel früher, vulgo: Sie flogen raus. Aber, pfui, wie brutal nach Ausschluss, Konkurrenz und Wettbewerbsgesellschaft klingt das denn?! Geht's bitte ein bisschen gefühlvoller? Dabeisein ist schließlich alles, der Weg ist das Ziel und niemand ein Verlierer. Jeder ein Tourist im Abenteuerresort des Lebens.

Im Dschungelcamp in Köln-Hürth wähnten sich trotzdem alle auf Reise, sie waren ja auch ständig aus dem Häuschen

Waren Castingshows wie GNTM oder Der Bachelor in vorpandemischer Zeit tatsächlich auch Pauschalreiseunternehmen, die ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer an "Traum"-Strände und Sponsoren-Locations in aller Welt schickten, tummelte sich zuletzt coronabedingt alles in Berlin. Bis auf das Dschungelcamp, das war in Köln-Hürth - was, Verzeihung, nicht einmal als richtiger Städtetrip durchging. Es wähnten sich trotzdem alle auf Reise. Statt zu Hause waren sie ja auch ständig aus dem Häuschen. Als Bachelor Niko hin und her eierte zwischen den Finalistinnen Mimi und Michèle, fand er es gut, beim filmischen Zusammenschnitt der Einzel-Dates mit den beiden "noch mal unsere Reise zu sehen". Bevor er erst die eine aus dem Schnellzug ins Glück schmiss und später, die Notbremse ziehend, die andere. Selbst bei Let's Dance begnügten sich die Kandidaten nicht damit zu tanzen. Nein, sie alle machten eine Reise, während unsereins nach den langen Lockdown-Monaten erst jetzt wieder darf.

Aber es wird ja generell mehr gereist, vor allem auf dem Gefühlsticket. Jan Frodenos "emotionale Reise zum Ironman-Weltmeistertitel". Die "Customer Journey" des Kunden hin zum erfolgreichen Kauf eines Produkts. Microsoft's Modern Finance Journey. Die Reise zu meinem schlankeren / besseren / gesünderen Ich ... Ersetze Arbeit, Anstrengung, Transformation, Prozess, das leidige Auf und Ab von Erfolg, Frust und Niederlage durch "Reise", und schon klingt es wie ein Erlebnisurlaub. Insofern ist das Leben ohnehin eine einzige Reise - hin zum Tod.

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