Ortstermin in Leipzig:Der Ernst der Lage

Mitteldeutscher Rundfunk

"Es geht um Demokratie": Unter diesem Motto hatte der MDR zum Neujahrsempfang geladen.

(Foto: Marco Prosch/dpa)

Ministerpräsidenten jammern über soziale Netzwerke, ein Wissenschaftler beschwört das Ende des Journalismus und eine Intendantin will endlich eine schnellere Berichterstattung: Der MDR-Empfang zum Thema Demokratie.

Von Ulrike Nimz

Reiner Haseloff hat seine Facebook-Seite gelöscht. Das erklärt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident ganz nebenbei, zu viele Beleidigungen und Rechtswidriges. Bodo Ramelow, Amtskollege aus Thüringen, dessen Jack-Russel-Terrier Attila einen eigenen Twitter-Account besitzt, zeigt Mitgefühl: Auch er verfahre längst nach der Lösch-und-Block-Methode. "Da tun einem manchmal die Daumen weh."

Die frühere Ostalgie-Schleuder zeigt heute mehrere Formate, die Ostdeutschland analysieren

Montagabend in Leipzig - der MDR hat Politiker und Medienschaffende ins angepuffte Ambiente des Riverboat-Studios geladen. Motto des späten Neujahrsempfangs: "Es geht um Demokratie". Gemeint ist: Es geht um alles. 2019 sind Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, hinzu kommt ein Strauß Jubiläen: 100 Jahre Weimarer Nationalversammlung, 70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall. Der Sender geht mit Eventfilmen und Themenwochen ins Rennen. Der Radiosender Jump wird einen Tag lang Hits aus dem Jahr 1989 spielen - Heimat, Hoffnung, Hasselhoff. Über all dem hängen viele offene Fragen: Wie umgehen mit der allgemeinen Diskurs-Verrohung, wie das Vertrauen des Publikums wahren, zurückerobern gar?

Bevor die Ministerpräsidenten über ihr Netzverhalten Auskunft geben, hält der Schweizer Kommunikationswissenschaftler Vinzenz Wyss ein komprimiertes Proseminar über die demokratische Funktion des Journalismus. Er hat die Gabe, im Ton größter Beschwingtheit darüber aufzuklären, dass die Branche den Bach runter gehe. Wyss spricht von "Erosion der institutionellen Wissensordnung". Nach den Ausschreitungen habe er Chemnitz besucht, sei mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der ihm höflich erklärt habe, dass die deutsche Presse nur noch Lügen verbreite. "Mir ist es kalt den Rücken runtergelaufen", so Wyss. Man habe versäumt, die eigene Arbeit transparent zu machen.

Der MDR hat das erkannt. Lange als Ostalgie-Schleuder verlacht, gibt es heute gleich mehrere Formate, die die ostdeutschen Verhältnisse präzise analysieren. Immer wieder lädt der Sender Zuschauer für einen Tag in die gläserne Zentrale ein, auch Pegida-Anhänger waren darunter.

Intendantin Karola Wille, in Karl-Marx-Stadt geboren, zeigt sich in ihrer Eröffnungsrede besorgt über die Echokammern im Internet, in denen das Trennende den meisten Zuspruch erfahre, über Gewaltandrohungen, die auch die Arbeit auf der Straße verändert haben: Bei den Krawallen in Chemnitz stellte der Sender seinen Reportern Bodyguards zur Seite. 2019 werde ein Jahr, in dem Weichen gestellt würden, so Wille. "Wir wissen, dass wir uns verändern müssen, dass wir manchmal zu langsam sind." Man wolle die Gesprächsformate des Senders weiter ausbauen.

Wie das aussehen könnte, zeigt sich zu fortgeschrittener Stunde: Die Gäste sollen über ein interaktives Tool ihre Gedanken zum Thema Demokratie übermitteln, garantiert anonym. Das Ergebnis wird auf einer Leinwand als Schlagwort-Wolke sichtbar. Erwartungsgemäß leuchten die Begriffe "Freiheit" und "Gerechtigkeit" auf. Aber irgendwer hat eben auch "Pipi", "Popo" und "Pommes" ins Handy getippt. Fazit: Die Lage ist ernst - aber so ernst nun auch wieder nicht.

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