Das Wochenende stand in Österreich politisch ganz unter dem Eindruck der jüngsten Nachrichten über den Bundeskanzler: Sebastian Kurz wird von der Staatsanwaltschaft beschuldigt, vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur "möglichen Käuflichkeit der türkis-blauen Regierung" im vergangenen Sommer bewusst falsch ausgesagt zu haben. Kurz rechtfertigte sich in mehreren Boulevardzeitungen ausführlich, beteuerte, er habe niemals die Unwahrheit gesagt, und das Ganze sei eine Kampagne der Opposition. Parteifreunde sprangen ihm bei, ein Ministerpräsident sprach von "Menschenhatz", eine Ministerin von der "Vernichtung des politischen Gegners". Praktisch alle Politiksendungen und Talkshows befassten sich ausführlichst mit dem Thema.
Das war dem ORF offenbar nicht genug. Der öffentlich-rechtliche Sender, bei dem in drei Monaten die Intendantenwahl ansteht, zeigte auf seiner Homepage auch noch den Livestream vom Parteitag der Jungen ÖVP. Das ist die konservative Jugendorganisation, in der auch die Karriere des Kanzlers begann und wo er am Wochenende einen Gastauftritt hatte. Einzige Nachricht: Die völlig unbekannte, 26-jährige Nationalratsabgeordnete Claudia Plakolm wurde zur Bundesobfrau gewählt.
Die Jugendparteitage der SPÖ und der Freiheitlichen werden nicht übertragen
Dass der ORF einen Jugendparteitag überträgt, ist ungewöhnlich genug; in diesen Genuss kommen SPÖ oder Freiheitliche jedenfalls nicht. Wie zudem einer Erklärung des Redakteursrates zu entnehmen ist, übertrug der Sender auch "das von der ÖVP selbst produzierte Signal" und übernahm damit direkt die Regie der Partei - inklusive Werbespot der ÖVP und Moderation. Das sei, so Redakteurssprecher Dieter Bornemann, "völlig untragbar". Es entstehe der Eindruck der "politischen Wunscherfüllung"; das Ganze schade der Glaubwürdigkeit des Senders. Er wies auch explizit darauf hin, dass die Entscheidung, eine Veranstaltung der Jungen ÖVP zu übertragen, nicht etwa von der Redaktion des Aktuellen Dienstes getroffen worden sei - sondern, par ordre de mufti, vom Vizedirektor der Technischen Direktion, Thomas Prantner. Es habe keinen erkennbaren oder journalistisch relevanten Grund für diese Entscheidung gegeben. Die bevorstehende Wahl eines neuen Intendanten, so Bornemann, dürfe keinesfalls einen Nährboden für die Vermutung bieten, dass der ORF nicht unabhängig berichte.
Im August tritt Generaldirektor Alexander Wrabetz - zum dritten Mal - zur Wiederwahl an; gewählt werden müsste er vom Stiftungsrat, einem Kontrollgremium, das man - laut ORF-Webseite - mit einem Aufsichtsrat vergleichen kann. Dieses Gremium bestellt unter anderem den Generaldirektor und auf dessen Vorschlag Direktoren und Landesdirektoren, genehmigt Budgets und Rechnungsabschlüsse. Der Stiftungsrat des ORF wird von den Parteien politisch besetzt; die ÖVP hat darin eine Mehrheit. Als Gegenkandidat von Wrabetz wird der ebenfalls ÖVP-nahe Roland Weißmann gehandelt, Vizefinanzdirektor und Geschäftsführer für ORF.at. Wrabetz dürfte also ein Interesse daran haben, sich mit der ÖVP gutzustellen.
Prantner argumentiert, der Livestream sei mit journalistischen Kriterien begründbar gewesen, da "im Programm des Bundestags ein Auftritt von Bundeskanzler Kurz angekündigt war und wir aufgrund der aktuellen Diskussion rund um eine mögliche Anklage gegen den Bundeskanzler live dabei sein wollten". Mittlerweile, und weil der Ärger offenbar zu groß wurde, hat Wrabetz reagiert: Er hat, berichtet der Standard, nach dem umstrittenen Livestream angeordnet, dass über derartige Übertragungen künftig der Chefredakteur von ORF 2 zu entscheiden habe.