Süddeutsche Zeitung

Online-Portal der "Daily Mail":Das Web zum Ausrollen

Statt Ordnung herrscht sorgsam geplantes Chaos: Die britische "Daily Mail" betreibt ihr Online-Portal vollkommen anders als die Konkurrenz, doch ausgerechnet dieser Webaufritt ist die erfolgreichste Zeitungswebseite der Welt.

Von Christian Zaschke, London

Auf der Website der Daily Mail ist am Dienstagvormittag alles anders als sonst. Der Tornado in den USA hat die Redakteure veranlasst, das Erscheinungsbild der Seite komplett umzubauen. Großformatige Bilder zeigen das Ausmaß der Zerstörung, unzählige private Aufnahmen des Sturms sind verlinkt, hier und da ist ein wenig Text zwischen die Bilder gestreut. Dass Mail Online einem einzelnen Thema so viel Aufmerksamkeit schenkt, ist ungewöhnlich.

Normalerweise steht links oben auf der Seite eine mal mehr, mal weniger reißerische Hauptgeschichte, die allerdings kaum Bedeutung hat. Denn wichtig ist, das wissen die Redakteure dank intensiver Marktforschung, allein die rechte Spalte der Seite. Diese rechte Spalte hat Mail Online zur erfolgreichsten Zeitungswebsite der Welt gemacht.

Am Dienstag ist sie vorübergehend etwas weiter nach unten gerutscht, weil sie neben den Nachrichten über die Opfer des Tornados doch etwas arg pietätlos gewirkt hätte.

Top-Stories in der rechten Spalte sind unter anderem: Wayne und Coleen Rooney freuen sich übers zweite Kind und lassen sich fotografieren. Robert Pattinson zieht bei Kristen Stewart aus und nimmt sein Rennrad und seine beiden Hund mit. Jennifer Lawrence hat sich blau anmalen lassen. Zach Galifianakis verbringt Zeit in einem Kofferraum. Und so weiter. Und wenn man glaubt, dass es nach 500 dieser Geschichten keine neue mehr geben kann, kommen tausend weitere Geschichten.

Derzeit schauen sich jeden Monat rund 100 Millionen Menschen in aller Welt die Seite der Mail an. Mail Online lässt, was Nutzerzahlen angeht, die Website der New York Times ebenso hinter sich wie die der BBC oder die des Guardian, der das Experiment versucht, sämtlichen redaktionellen Inhalt kostenlos ins Netz zu stellen und mit dieser Strategie mehr als 30 Millionen Pfund im Jahr verliert.

Der Betreiber von Mail Online und Daily Mail, der Daily Mail and General Trust (DMGT), verdient hingegen Geld. Das Magazin Economist schätzt, dass DMGT in diesem Jahr rund 45 Millionen Pfund allein mit der Webseite einnimmt und damit erstmals den Gewinn-Rückgang im Printgeschäft mehr als ausgleichen kann. Es wird erwartet, dass DMGT bereits 2015 mehr mit seinem Digitalgeschäft verdient als mit den Printausgaben. Vermutlich erblassen sie beim Guardian vor Neid angesichts solcher Zahlen.

Das Mutterblatt, die Daily Mail, ist eine Boulevardzeitung, die in einer Auflage von rund zwei Millionen Exemplaren in ganz Großbritannien erscheint. Die Mail ist sehr konservativ, zu ihren Lieblingsthemen zählen Geschichten darüber, dass zu viele Immigranten ins Land kommen.

Angesichts der deutschen Wirtschaftsstärke wird in der Mail schon mal vor dem "Vierten Reich" gewarnt. Die politischen Kolumnisten schreiben zum Teil einen solch blühenden Wahnsinn zusammen, dass man nie sicher sein kann, ob sie das wirklich ernst meinen. Die Mail ist ein sehr lebendiges Blatt, das keinem Streit aus dem Weg geht. Diese Lebendigkeit hat sich auf die Webseite übertragen, obwohl die von einem komplett eigenständigen Team gestaltet wird. Beide Redaktionen arbeiten getrennt.

Diese Trennung ist ungewöhnlich, aber bei Mail Online wird ohnehin nichts so gemacht, wie es in der Branche üblich ist. Wer die Seite aufruft, sieht schnell, dass sie vollkommen anders aussieht als alle anderen News-Seiten.

Die meisten Zeitungswebseiten bemühen sich um Ordnung, Übersichtlichkeit und eine überschaubare Auswahl an Themen auf der Titelseite. Die Mail hingegen hat die wohl größte, bunteste Titelseite der Welt. Statt Ordnung herrscht sorgsam geplantes Chaos. Könnte man das Web ausrollen, wäre diese Titelseite vermutlich einige Kilometer lang.

Eine zweite Besonderheit sind die riesigen Fotos in den Geschichten. Eine Story bei Mail Online besteht oft aus einem Dutzend oder mehr großformatigen Bildern, zwischen denen jeweils nur ein paar Zeilen Text stehen.

Während andere Seiten ihren Lesern mit so genannten Bildstrecken nerven, können die Leser der Mail einfach immer weiter nach unten scrollen, um immer neue bunte Bilder zu sehen - es ist ein bisschen wie Cruisen in einem großen amerikanischen Auto. Und egal, was man gerade liest auf der Seite: Immer bleibt die rechte Spalte mit den Klatschgeschichten zu sehen.

Alle halbe Stunde wird sie neu arrangiert, im Verlauf des Dienstags laufen zum Beispiel die Meldungen ein, dass Leonardo DiCaprio sich in einem Nachtklub in Cannes mit einigen Frauen unterhalten hat und Katie Waissel wohl mittlerweile ganz gut mit ihrer Scheidung klar kommt.

Die amerikanische Klatsch-Journalistin Jo Piazza sagte der BBC: "Viele amerikanische Klatschblogs und Gossip-Webseiten schauen sich an, wie Mail Online Promi-News aufbereitet, weil das so gut gemacht ist. Besonders gut sind sie darin, knackige Schlagzeilen zu finden. Niemand betitelt Promibilder so gut wie die Mail."

Mehr und mehr britische Verlage denken darüber nach, Geld für den Zugang zu ihren Websites zu verlangen. Die Times ist bereits komplett hinter einer Paywall verschwunden, bei der Financial Times sind nach Registrierung pro Monat 20 Artikel frei, danach muss, wer weiterlesen will, ein Abo abschließen.

Die Mail hingegen will den Zugang zunächst offen lassen und weiter wachsen. Laut dem Vorsitzenden des Betreibers DMGT, Lord Rothermere, peilt Mail Online zunächst eine Verdopplung der Nutzerzahlen auf 200 Millionen pro Monat an. Sei diese erreicht, wolle man darüber nachdenken, für "Premium-Inhalte" Geld zu verlangen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1677694
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.05.2013/pak
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.