Rechtsstreit um Netflix-Serie:Nicht zu fassen

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Als Täter präsentiert: Robert Gustavsson als Stig Engström. (Foto: Robert Eldrim)

Der Mord an Ministerpräsident Olof Palme vor 35 Jahren ist bis heute ungelöst. Netflix präsentiert in einer Serie einen Täter. Und kassiert dafür Ärger.

Von Kai Strittmatter

Was der schwedische Staat in 35 Jahren bis heute nicht geschafft hat, dafür braucht Netflix in der neuen Serie Der unwahrscheinliche Mörder gerade mal zehn Sekunden. Zuerst sieht der Zuschauer die Tafel "Basierend auf einem ungelösten Verbrechen". Dann knallen zwei Schüsse und der Sender hat das Verbrechen gelöst: Die Zuschauer sehen dem in kalter Nacht schwer atmenden Mörder ins Gesicht. Auf dem Boden in einer Blutlache liegt sterbend der Ministerpräsident von Schweden. Seine Frau schreit. In der Netflix-Welt wenigstens ist der Mord an Olof Palme von der ersten Minute an aufgeklärt.

Dass die Serie in Schweden zum Aufreger werden würde, war wahrscheinlich kein Wunder. Am 28. Februar diesen Jahres war es 35 Jahre her, dass der sozialdemokratische Ministerpräsident Olof Palme im Zentrum von Stockholm mit zwei Schüssen in den Rücken auf offener Straße ermordet wurde. Er war mit seiner Frau Lisbeth gerade aus dem Kino gekommen. Der Jahrestag in diesem Jahr war ein besonderer: der erste nach dem Mord, in dem keine polizeilichen Ermittlungen mehr liefen.

Staatsanwalt Krister Petersson hatte die Ermittlungen eingestellt im letzten Jahr, nach mehr als 10000 Verhören, nachdem unter anderem die PKK, die CIA, die Südafrikaner und Neonazis als mögliche Täter ins Spiel gebracht worden waren. Aber noch heute gilt: Der Mord und die über Jahre dilettantische Polizeiarbeit haben sich ausgewachsen zu einem nationalen Trauma, eine "offene Wunde, die nie geheilt werden konnte", wie der noch amtierende Ministerpräsident Stefan Löfven sagt.

Hans Holmér, der Leiter der Ermittlungen zum Attentat auf Olof Palme, mit zwei Smith & Wesson 357 Magnum-Revolvern bei einer Pressekonferenz. (Foto: Hakan Roden/dpa)

Als Petersson im Juni letzten Jahres vor die Öffentlichkeit trat, da hatte er zuvor hohe Erwartungen geweckt, dass er das Rätsel lösen würde. Es wurde dann aber aus Sicht vieler Schweden "die enttäuschendste Pressekonferenz in der Geschichte der Pressekonferenzen" wie eine Zeitschrift schrieb. Ja, Petersson präsentierte einen möglichen Täter: Stig Engström, ein Grafiker der Skandia-Versicherungen mit Alkohol- und Geldproblemen, Sportschütze, politisch rechts. Den Schweden bekannt als "Skandiamann", einer der vor Ort war in jener Nacht und der sich den Medien über die Jahre stets als angeblicher Zeuge des Mordes aufgedrängt hatte.

Aber Staatsanwalt Petersson legte keine neuen Beweise vor, keine neuen Zeugen, kein zwingendes Motiv. Er stützte seine Einschätzung allein auf eine Neuinterpretation der Indizien. "Wir kommen nicht um Stig Engström als mutmaßlichen Täter herum", sagte er. Engström selbst konnte sich nicht mehr zu den Vorwürfen äußern, er war im Jahr 2000 verstorben. Hernach prasselte Kritik von allen Seiten auf den Staatsanwalt ein, bei einer Umfrage des Svenska Dagbladet gaben gerade mal 19 Prozent der Befragten an, die Theorie für überzeugend zu halten.

Stig Engström war zuvor auch schon in einem 2018 erschienenen viel gelobten Buch des Investigativjournalisten Thomas Pettersson als möglicher Täter ausgemacht worden. Es ist dieses Buch, "Der unwahrscheinliche Mörder", das sich die gleichnamige Netflix-Serie als Grundlage nimmt.

Die fünfteilige Serie, das vorneweg, ist als Fiktion ein starkes Stück Fernsehen, darüber waren sich die meisten Rezensenten in Schweden einig. "Grausam gut gemacht" urteilte Dagens Nyheter: wenn man ins winterliche Stockholm der 1980er Jahre eintauchen darf, in die bridgespielende, Palme-hassende Gesellschaft des bourgeoisen Vororts Täby, historisch ins Schwarze treffend auch in der Darstellung des egomanischen Ermittlungsleiters Hans Holmer (Mikael Persbrandt), der das Offensichtliche beiseite schiebt, um weiter an Verschwörungstheorien zu basteln.

Schauspieler Robert Gustavsson, der Darsteller des Stig Engström, hatte in jener Februarnacht 1986 selbst gemeinsam mit dem Ehepaar Palme im Grand Kino gesessen, noch wenige Minuten vor dem Mord - eine Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion, die der Netflix-PR im Vorfeld zu zusätzlichem Kitzel verhalf. Der Stig Engström der Serie ist ein trunksüchtiger, verklemmter Möchtegern, gemobbt und verspottet. Die Rezensentin des Svenska Dagbladet bekannte, sie habe anders als viele Schweden schon bei der Präsentation des Staatsanwaltes im letzten Jahr die Stig-Engström-These "unwiderstehlich" gefunden: "Der rundliche Werbefachmann aus Täby, als potenzieller Mörder eine Tom-Ripley-Figur - ein soziopathischer Kauz der einfach nur ... zufällig tötet."

Mikael Persbrandt als Ermittler Hans Holmér in der Serie. (Foto: Johan Paulin)

Nun ist Stig Engström anders als Tom Ripley keine literarische Figur, keine Erfindung von Patricia Highsmith. Engström hat gelebt. Er hat eine noch lebende Ex-Frau und Bekannte, die ebenfalls in der Serie auftauchen, oft alles andere als vorteilhaft. Bald nach Ausstrahlungsbeginn brach deshalb die Debatte los in Schweden. Darf man das: einem Toten - der nie dafür vor Gericht stand - einen Mord anhängen? Ohne Beweise? Muss sich ein Sender an die Unschuldsvermutung halten? Reicht es, wenn Netflix bei fünf Stunden Fernsehunterhaltung über einen gruselig fies daherkommenden Mörder namens Stig Engström im Abspann nach jeder Folge die zwei Sätze nachreicht: "Es ist nicht bewiesen, dass Stig Engström der Palme-Mörder war. Er wurde aber verdächtigt"?

Die Produzentin macht den Staatsanwalt und Netflix zu Komplizen in der Sache Stig Engström

Die Produzentin der Serie, Jenny Stjernströmer Björk, verteidigte sich Dagens Nyheter gegenüber, die Serie präsentiere lediglich eine Theorie: "Sie erhebt nicht den Anspruch, die Wahrheit zu sagen oder eine Lösung zu präsentieren." Es sei die fiktive Aufarbeitung jener These, die auch Schwedens Chefankläger Krister Petersson im letzten Jahr als die wahrscheinlichste präsentiert habe. Die Produzentin macht also den Staatsanwalt und Netflix zu Komplizen in der Sache Stig Engström - aber schon Staatsanwalt Petersson war für seine These heftig angegriffen worden. Der Ombudsmann des Parlamentes, Per Lennerbrant, hatte ihm eine eklatante "Verletzung der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung" vorgeworfen.

Ein Vorwurf, der nun auch Netflix trifft: Es ist bei den Behörden in Stockholm eine Anzeige eingegangen wegen "Verleumdung eines Verstorbenen". Nun debattierten die schwedischen Medien, welche Chance die Anzeige hat: In Schweden darf allein der Justizkanzler, der Ombudsmann der Regierung, eine solche medienrechtliche Strafverfolgung aufnehmen. Die meisten Beobachter glauben, die Hürden dafür seien zu hoch. Der Justizkanzler hat sich noch nicht dazu geäußert.

Die medienethische Debatte geht derweil weiter. Gerade die junge Generation werde sich ihre Geschichtsschreibung zum Fall Olof Palme in Zukunft bei Netflix holen, warnen einige. Und dabei, meinte die Zeitung Sydsvenskan, könnten Faktenfanatiker in der Serie "mehr Lügen pro Sekunde finden als bei 'Riks'" - Riks ist der Internet-Propagandakanal der rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Die liberale Dagens Nyheter schrieb in einem Leitartikel, es helfe Netflix nicht, sich auf Staatsanwalt Petersson zu berufen. Schon der Staat nämlich habe sich in der Benennung des toten Engströms als wahrscheinlichen Mörder eines "ungewöhnlich groben Versagens" schuldig gemacht: "So sollte das Drehbuch für Schwedens Trauma nicht aussehen."

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