Klage gegen Netflix:So war es nicht

Klage gegen Netflix: So war es: Nona Gaprindaschwili hat 1965 sehr wohl gegen einen Mann Schach gespielt.

So war es: Nona Gaprindaschwili hat 1965 sehr wohl gegen einen Mann Schach gespielt.

(Foto: Evening Standard/Getty Images)

Kleine Rolle, große Wirkung: Warum die Klage einer Schach-Großmeisterin gegen das Streamingportal Netflix zu einem Präzedenzurteil führen kann.

Von Jürgen Schmieder

Es könnte eine Meldung aus Hollywood sein, die nicht weiter Aufsehen erregt: Die georgische Schach-Großmeisterin Nona Gaprindaschwili hat das Streamingportal Netflix auf fünf Millionen Dollar Schadenersatz verklagt, und Bundesrichterin Virginia Phillips hat nun entschieden, dass diese Klage nicht abgewiesen und es zu einer Gerichtsverhandlung kommen wird.

"Na und?", ist man versucht zu fragen. Es wird in dieser Branche andauernd geklagt, die Summen klingen stets astronomisch: Warum ist deshalb die Aufregung groß?

Konkret geht es um eine Szene in der überaus erfolgreichen Miniserie "Das Damengambit", die in den ersten vier Wochen nach der Veröffentlichung im Oktober 2020 weltweit in mehr als 62 Millionen Haushalten gelaufen war, sieben Emmys gewann und laut New York Times einen Schach-Boom auslöste, wie es ihn seit dem legendären Duell zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski im Jahr 1972 nicht mehr gegeben hatte. Gaprindaschwili nimmt an einem Schachturnier teil, während einer Partie ist ein Radio-Reporter zu hören: "Das einzig wirklich Außergewöhnliche an ihr ist ihr Geschlecht; und das ist noch nicht einmal ungewöhnlich in Russland. Da ist Nona Gaprindaschwili, sie ist Schach-Weltmeisterin und hat noch nie gegen einen Mann gespielt."

Das ist herabwürdigend, vor allem aber ist es: falsch. Gaprindaschwili hatte zum Zeitpunkt der Partie (1968) laut Klageschrift "gegen mindestens 59 Männer gespielt (gegen 28 davon gleichzeitig); darunter mindestens zehn Spieler, die zum Zeitpunkt der Partie den Rang eines Großmeisters innehatten". Der Vorwurf: Netflix habe absichtlich gelogen, die Darstellung sei sexistisch und herabsetzend.

Es hilft der Klägerin, dass die Serie auf dem gleichnamigen Buch von Walter Tevis ("The Hustler", "The Man Who Fell to the Earth", "The Color of Money") aus dem Jahr 1983 basiert. Besagte Szene gibt es auch im Buch, der Reporter sagt dort jedoch: "Das einzig wirklich Außergewöhnliche an ihr ist ihr Geschlecht; und das ist noch nicht einmal ungewöhnlich in Russland. Da war Nona Gaprindaschwili, die dem Level des Turniers nicht gewachsen ist, all diesen russischen Großmeistern bereits begegnet."

Das Urteil könnte zum Präzedenzfall werden für künftige Projekte, und genau deshalb ist es gerade auffällig still in Hollywood

Man muss den Fall wohl auf mehreren Ebenen betrachten. Netflix versuchte, einen Gerichtsfall zu vermeiden mit der Begründung, dass "kein vernünftiger Zuschauer die negativen Schlüsse ziehen wird, die die Klägerin nahelegt". Also: Es ist ein Reporter, der diese Sätze sagt, kein Erzähler im Hintergrund, und Reporter können zum einen falsch liegen; zum anderen kann der Satz bewusst ins Drehbuch eingebaut worden sein, um die Story dramatischer, die Leistungen von Gaprindaschwili beeindruckender werden zu lassen.

Im wahren Leben gewann sie im Jahr 1961, als 20-Jährige, die Schach-WM der Frauen, erst 1978 wurde sie jedoch als erste Frau vom Internationalen Schachverband Fide zur Großmeisterin erklärt. Die Partie in der Serie findet 1968 statt, da war Gaprindaschwili noch Weltmeisterin. Sie verteidigte ihren Titel insgesamt vier Mal, 1978 verlor sie ihn an die damals 17 Jahre alte Landsfrau Maia Tschiburdanidse.

Klage gegen Netflix: In "Das Damengambit" rollt eine junge Frau namens Beth Harmon (r.) die Schachwelt auf. Und in einer Szene der fiktiven Serie heißt es über Gaprindaschwili, sie habe nie gegen einen Mann gespielt.

In "Das Damengambit" rollt eine junge Frau namens Beth Harmon (r.) die Schachwelt auf. Und in einer Szene der fiktiven Serie heißt es über Gaprindaschwili, sie habe nie gegen einen Mann gespielt.

(Foto: Phil Bray/Netflix)

So was passiert in Filmen und Serien, die auf wahren Begebenheiten basieren, andauernd: Es wird nun mal überdramatisiert, beschönigt oder verschlimmert, mehrere Personen zu einer verdichtet, Zeiten und Orte verändert - deshalb zum Beispiel nannte Mark Zuckerberg den Film "The Social Network" über die Anfangsjahre von Facebook "ungenau", zum Beispiel habe er das soziale Netzwerk nicht aus Frust über eine Verflossene erfunden, sondern sei damals bereits mit seiner jetzigen Ehefrau Priscilla Chan liiert gewesen: "Die haben ein paar Sachen erfunden, die ich ein bisschen verletzend fand." Aber: Er hat weder Regisseur David Fincher noch Drehbuchautor Aaron Sorkin verklagt. Sorkin selbst sagte: "Es geht nicht um Genauigkeit, sondern ums Erzählen einer Geschichte. Warum ist es so eine große Sache, akkurat um der Genauigkeit wegen zu sein?"

Das ist das zweite Argument von Netflix: Es sei nun mal eine fiktive Geschichte, weshalb kein Zuschauer die Sätze als Fakt auslegen würde. Dieser Argumentation indes folgt Bundesrichterin Phillips nicht, und nun wird es interessant. "Das befreit Netflix nicht von der Haftung für üble Nachrede, wenn alle anderen Voraussetzungen dafür erfüllt sind", heißt es in der Begründung: "Zumindest spricht der Satz die Leistungen ab, die bedeutend und wichtig sind für den Ruf der Klägerin." Die Beweise, die der Konzern vorgelegt habe, sprächen eher dafür, dass Netflix die Wahrheit gekannt habe, die ja ganz klar in der Roman-Vorlage nachzulesen sei.

Es geht also nicht nur um die mittlerweile 80 Jahre alte Großmeisterin, wie Richterin Phillips in ihrer Begründung schreibt, die Klage zuzulassen: "Netflix zitiert keine, und das Gericht weiß auch von keinen Fällen, die Verleumdungsklagen für die Darstellung echter Personen in fiktiven Werken ausschließen." Ein Termin steht noch nicht fest, es dürfte viele in der Unterhaltungsbranche geben, die gespannt darauf warten, denn: Das Urteil könnte zum Präzedenzfall werden für künftige Projekte, und genau deshalb ist es gerade auffällig still in Hollywood.

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