Journalismus in den Niederlanden:"Es geht so nicht mehr weiter"

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"Es geht so nicht mehr weiter", sagt Marcel Gelauff, Chefredakteur Aktuelles beim NOS. (Foto: Koen van Weel/AFP)

Der öffentlich-rechtliche Sender NOS entfernte vorige Woche die Logos des Senders von den Dienstfahrzeugen, um Mitarbeiter zu schützen. Fast täglich werden in den Niederlanden Journalisten attackiert.

Von Thomas Kirchner

Es war eine spektakuläre Aktion, eine Warnung, ein Hilferuf: Am vergangenen Donnerstag entfernten Mitarbeiter des NOS, des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Niederlande, die Logos ihres Senders von den Einsatz- und Übertragungswagen. Die Radio- und Fernsehjournalisten wollen sich nicht mehr zu erkennen geben, sie glauben, sich verstecken zu müssen, weil sie bei ihrer Arbeit immer öfter beschimpft, bedroht oder gar physisch angegangen werden.

Das sei "ein Schritt, von dem wir niemals dachten, dass wir ihn gehen müssten", erklärte Marcel Gelauff, Chefredakteur Aktuelles beim NOS, in einer Mitteilung, aus der Verzweiflung spricht. "Wir haben monatelang überlegt. Wir wollen das eigentlich nicht, denn wir wollen gerade als öffentliche journalistische Organisation sichtbar und ansprechbar sein. Aber es geht so nicht mehr weiter." Fast täglich werde Kollegen bei Einsätzen der Mittelfinger gezeigt, sie würden mit Abfall beworfen, man schneide ihnen den Weg ab auf der Autobahn oder bremse hart ab vor ihnen. Menschen hämmerten an die Fahrzeuge, um Übertragungen zu stören. Von etwa hundert Vorfällen allein im vergangenen Jahr berichtet der NOS.

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"Seit ein paar Jahren gehen wir mit Sicherheitspersonal auf Demos", erzählt NOS-Reporterin Kysia Hekster der SZ. "Manche Freunde von mir können das kaum glauben." Gewalt und Aggression hätten in jüngster Zeit stark zugenommen, vor allem auf Veranstaltungen radikaler Bauern, Gelbwestler, Kritiker der Anti-Corona-Maßnahmen oder bei Protesten für und gegen den umstrittenen Nikolaus-Helfer Zwarte Piet. "Sie schreien 'Verräter', 'Lügner', spucken, schubsen. Sie drohen, dass sie deinen Kindern etwas antun." Bei der letzten Bauern-Demo habe man ihr einen "Fake News"-Sticker auf den Rücken geklebt. Sie komme kaum noch dazu, ihre eigentliche Arbeit zu machen. Fast alle Kollegen, mit denen sie darüber gesprochen habe, hätten Ähnliches erlebt, sagt Hekster, "es muss ein strukturelles Problem sein".

Journalisten, die bedroht werden, vermieden den Gang in heikle Stadtviertel

Der niederländische Journalistenverband NVJ bestätigt das. Er sieht in der "zunehmenden Gewalt gegen Journalisten" einen "traurigen Trend", über den man sich "schon seit Langem große Sorgen" mache. Erwähnt wird das auch im jüngsten Gefahren-Bericht des nationalen Antiterror-Beauftragten. Es bestehe ein Zusammenhang mit Verschwörungstheorien und Falschinformationen rund um das Coronavirus, die von Menschen verbreitet würden, die "Regierung, Wissenschaft und den traditionellen Medien" misstrauten. Ein kleinerer Teil von ihnen neige zu "extremistischem Verhalten" wie Angriffen auf Journalisten und Polizisten.

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Wie gravierend die persönlichen Folgen von Bedrohungen und Angriffen für Journalisten sein können, zeigt eine Untersuchung im Auftrag des NVJ aus dem Jahr 2017. Über gelegentliche Sachschäden hinaus berichten betroffene Kollegen von Stress, Angst und Schlaflosigkeit, von kosten- und zeitfressenden juristischen Gefechten, von Beziehungsproblemen. Schaden nehme aber nicht zuletzt auch die Pressefreiheit. Journalisten, die bedroht werden, vermieden den Gang in heikle Stadtviertel, oder sie ließen die Finger von Themen, die ihnen gefährlich werden könnten, oft auf Geheiß ihrer Chefs.

Doch nicht nur Journalisten, auch Politiker müssen sich inzwischen vorsehen. Der Eingang zum Torentje, dem Büro des Premierministers in der Haager Innenstadt, ist normalerweise eine friedliche, spärlich bewachte Idylle, frei für jedermann. Nun platzieren sich dort öfter aufgebrachte Menschen und beschimpfen ein- und ausgehende Amtsträger als "Landesverräter", "Kindervergewaltiger" oder "Satanisten". Für den Christdemokraten Pieter Omtzigt geriet ein kurzer Gang durch Den Haag unlängst zum Spießrutenlauf, verfolgt von geifernden Wutbürgern. Parlamentspräsidentin Khadija Arib drückte in einem Brief an den Haager Bürgermeister ihre Besorgnis aus. Manche Kollegen könnten das Parlament nicht mehr durch den Haupteingang verlassen.

Es gibt Politiker, die die Angriffe nicht verurteilen, sondern noch befeuern

Das alles hängt zusammen mit der zunehmenden Polarisierung der niederländischen Gesellschaft. Manche haben sich vollkommen abgewendet von den traditionellen Parteien und Medien, sie leben in einer eigenen Welt mit eigenen "Nachrichtenquellen" auf Youtube oder anderen Plattformen im Netz. Wenn sie sich überhaupt noch auf Twitter äußern, dann in äußerst radikalem und oft stark beleidigendem Ton. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk gilt diesen Bürgern als linksgewirkt und einseitig, er ist zu einem ihrer obersten Feindbilder geworden, weshalb rechte Journalisten vor Jahresfrist damit begannen, eine Netz-Alternative in Form von on.nl aufzubauen. Von der Größe her könnte dieser Teil der Gesellschaft mit der Anhängerschaft der beiden Rechtsaußen-Stars Geert Wilders und Thierry Baudet übereinstimmen, die zusammen ungefähr ein Drittel der Wählerstimmen holen. Politiker wie Baudet oder Wybren van Haga (beide Forum für Demokratie) verurteilen die Angriffe auf Journalisten nicht etwa, sondern feuern Verschwörungstheoretiker noch an.

Der Satiriker Arjen Lubach widmete der Radikalisierung und medialen Spaltung der Gesellschaft am Sonntag fast eine halbe Stunde seiner Sendung. Am Beispiel von Youtube demonstrierte er, wie nur drei Klicks von ganz normaler Kritik an den Corona-Maßnahmen zu den abstrusesten Verschwörungstheorien leiten. Wenn das zu Bedrohungen oder gar Gewalt führe, "dann ist das eine direkte Folge des Verdienstmodells dieser Internet-Firmen". Lubach appellierte an Google und Co: Sie müssten die Sache reparieren. "Sie können dafür sorgen, dass wir alle wieder in einer einzigen Wirklichkeit leben."

Der Deutsche Journalistenverband reagierte bestürzt auf die Entscheidung der NOS-Kollegen. "Das ist erschreckend", so der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall. Zwar gebe es auch hierzulande gelegentlich Übergriffe, sagt ein DJV-Sprecher. Im Vergleich zur Lage in den Niederlanden herrschten in Deutschland aber "fast noch paradiesische Zustände".

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