Wenn die New York Times nicht für die Meinungsfreiheit kämpft, wer dann? So denken viele auf der ganzen Welt, und daher erscheint der Leitartikel besonders irritierend, den die Times am Montag unter der Überschrift "Charlie Hebdo und Meinungsfreiheit" veröffentlichte. Er war nicht gezeichnet und sollte daher die Meinung "der Redaktion" wiedergeben.
Der oder die Autoren zeigten sich - natürlich - schockiert über dem Mordanschlag auf das Magazin, betonten dann aber den Unterschied zwischen nur "abstoßenden" und "gefährlichen" Meinungsäußerungen. In vielen Ländern sei es verboten, den Holocaust zu leugnen. Und dann das Entscheidende: "Geschmäcker, Standards und Situationen ändern sich, letztlich ist es für Redakteure und Gesellschaften am besten, wenn sie frei entscheiden, was geeignet - und sicher - zu drucken ist". ("Fit and safe to print.")
Religion spielt in den USA eine größere Rolle im Alltag
Das war ein erstaunliches Maß an Relativismus. Die Spielerei mit dem alten Wahlspruch der Times ("All the news that's fit to print") macht alles noch verstörender. Nun gehört es zum Bild, dass in den USA einerseits die Meinungsfreiheit generell höher gehalten wird als in vielen europäischen Ländern, dass aber auch Religion eine größere Rolle im Alltag spielt und es für Blasphemie wenig Verständnis gibt. Bill Donohue, ein katholisch-fundamentalistischer Aktivist, schrieb in einem Blog, dass sich die Muslime "zu Recht" über Charlie Hebdo ärgerten und dass die Karikaturisten eine Mitverantwortung an ihrem Tod trügen.
Das ist sicher ein Extremfall. Aber auffallend ist schon, dass von den angesehenen Zeitungen der USA nur die Washington Post die Mohammed-Cartoons veröffentlichte. Das Boulevardblatt Daily News zeigte Fotos der Titelseite von Charlie Hebdo, auf denen der Prophet verpixelt war.
New York ist säkularer denn je
Aber die Times? Erstens setzt sich die Redaktion gemeinhin radikal von religiösen Fundamentalisten ab. Zweitens war sie immer bereit, für wichtige Geschichten Risiken einzugehen. Und drittens ist New York säkularer denn je. Der im Januar abgelöste Bürgermeister der Stadt, Michael Bloomberg, praktizierte diesen Säkularismus konsequent. Er unterstützte Moslems, die in der Nähe der World Trade Center ein Gebetszentrum bauen wollten, auch wenn dies Opfer der Terroranschläge vom 11. September verletzen konnte.
Als ein verrückter Pfarrer in Florida einen Koran verbrennen wollte, meinte Bloomberg kühl, die Aktion sei geschmacklos, es sei in Amerika aber nicht verboten, Bücher zu verbrennen. Schließlich untersagte er die Weihnachtsdekoration im Fährterminal nach Staten Island; der sei ein öffentlicher Raum, in dem religiöse Symbole nichts verloren hätten.
Angesichts dieser Entwicklung vor der Haustür der Times wünscht man sich, dass das irritierende Editorial nicht das letzte Wort der Zeitung zum Thema Meinungsfreiheit ist.