Süddeutsche Zeitung

Journalismus:Eine Frage der Meinung?

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Auf der Op-Ed-Seite der "New York Times" stehen Meinungsbeiträge, die nicht von Mitarbeitern verfasst sind und vielfältige Ansichten präsentieren sollen. Über einen republikanischen Beitrag dort streitet jetzt die Redaktion.

Von Christian Zaschke

Auch am Freitag war der Text des republikanischen Senators Tom Cotton noch auf der Homepage der New York Times zu lesen. In einem Gastbeitrag hatte Cotton am Mittwoch gefordert, das Militär gegen die Randalierer einzusetzen, die in den Tagen zuvor in mehreren amerikanischen Städten Läden geplündert und Autos in Brand gesteckt hatten. Der Text führte nicht nur zu wütenden Reaktionen der überwiegend liberalen Times-Leser, er führte auch zu gewaltigem Ärger in der Redaktion. Dutzende Reporterinnen und Reporter machten ihrem Unmut auf Twitter Luft. Dass Journalisten so entschieden und in solcher Zahl gegen das eigene Blatt vorgehen, ist äußerst ungewöhnlich.

Cotton vertritt in seinem Text die Ansicht, die Proteste seien von linken Extremisten gekapert worden. Es handele sich um "nihilistische Kriminelle", deren Aktionen von manchen liberalen Politikern entschuldigt würden. Namentlich nannte er den New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio, der tatenlos zugesehen habe, während Manhattan in der Gesetzlosigkeit versunken sei. Dass Cotton diese Ansicht vertritt, ist nicht neu. Er hatte sich ähnlich auf Twitter geäußert und dafür von Donald Trump Zustimmung erfahren.

Die Times veröffentlicht jeden Tag Meinungsbeiträge auf einer sogenannten Op-Ed-Seite, die nicht von den Mitarbeitern der Zeitung geschrieben werden. Die Idee ist, den Lesern möglichst vielfältige Meinungen von außen zu präsentieren. Diese Texte gehören zu den meistgelesenen. Als klar wurde, dass Cottons Worte bei der Leserschaft und in der Redaktion mindestens für Unverständnis sorgen, wies die Meinungsredaktion zunächst auf die Bedeutung der Meinungsvielfalt hin.

Der Chef der Meinungsseite hatte den Text vor der Veröffentlichung nicht gelesen

Mehrere Journalistinnen und Journalisten argumentierten auf Twitter, der Aufruf, das Militär in die Städte zu bringen, gefährde die schwarzen Kollegen. Zudem sei die These, dass die Proteste von der Antifa gekapert wurden, längt widerlegt. Da der Druck zunehmend stärker wurde, sah sich Meinungschef James Bennet genötigt, die Veröffentlichung zu verteidigen. Unter anderem schrieb er, Cotton hätte seine Meinung ohnehin veröffentlicht, und so hätten die Times-Leser die Gelegenheit, sich aus erster Hand ein Bild über die Ansichten des Senators zu machen. Bennet räumte später ein, den Text vor Veröffentlichung nicht gelesen zu haben.

Am Donnerstagabend gab die Times eine Erklärung heraus, in der es hieß, die Veröffentlichung sei einem "überhasteten redaktionellen Prozess" geschuldet. Der Text habe nicht den Standards des Blattes entsprochen. Seit Freitag steht am Beginn von Cottons Beitrag der Link zu einem Artikel von Meinungschef James Bennet, der noch einmal ausführlich erklärt, warum die Times den Text veröffentlichte. Mittlerweile dürfte er selbst ihn auch gelesen haben.

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Quelle:
SZ vom 06.06.2020
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