Zum Tod von Neil Sheehan:Der Mann, der die "Pentagon Papers" veröffentlichte

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Neil Sheehan (v.l.) mit seinen Kollegen Abraham Michael Rosenthal und James L. Greenfield von der "New York Times". (Foto: John Lent/AP)

Der "New York- Times"-Reporter löste eine Vertrauenskrise aus. Wie er an die geheimen Dokumente gelangte, erzählt er später in einem Interview, das erst posthum bekannt wird.

Von Willi Winkler

Es war also nicht nur Verrat, sondern auch noch Diebstahl, die Sache mit den "Pentagon Papers". Das hat der Reporter Neil Sheehan in einem Gespräch erzählt, das erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. In epischer Ausführlichkeit schilderte Sheehan, wie er an die brisanten Dokumente gelangte, die 1971 in der New York Times und dann in der Washington Post erschienen. Am Donnerstag ist Sheehan gestorben, und die Times konnte jetzt die Hintergrundgeschichte nachliefern.

Die Dokumentation, entstanden im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums, belegte auf 7000 Seiten, wie die amerikanische Regierung unter allen Präsidenten seit Eisenhower den Einsatz in Vietnam verschleiert und die Öffentlichkeit belogen hatte. Daniel Ellsberg, Analytiker in einer regierungsnahen Denkfabrik, bekam das brisante Material in die Hand und versuchte, Regierungsbeamte auf das Staatsverbrechen aufmerksam zu machen. Henry Kissinger, nationaler Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon, zeigte kein Interesse. Ellsberg wandte sich mit dem geheimen Material an den Times-Reporter Sheehan, den er in Vietnam kennengelernt hatte, wo beide als Soldaten stationiert waren.

Im Copyshop wären Sheehan und seine Frau fast aufgeflogen - wegen des Geheimhaltungsstempels

Aus berechtigter Angst, wegen Hochverrats vor Gericht gestellt zu werden, wollte Ellsberg nicht als Informant enttarnt werden. Er gab das Material nicht aus der Hand, Sheehan sollte es nur lesen und sich Notizen dazu machen. Als ihm Ellsberg aber einmal den Schlüssel zu seiner Wohnung überließ, schleppte Sheehan die Dokumente mit Hilfe seiner Frau in einen Copyshop. Das erste Gerät kapitulierte wegen Überlastung, sie mussten sich ein anderes suchen, das von einem ehemaligen Navy-Soldaten beaufsichtigt wurde, dem die Geheimhaltungsstempel auffielen. Der Veteran ließ sich jedoch mit der Behauptung, es handele sich um wissenschaftliches Material für eine Harvard-Studie und sei als Ganzes freigegeben, schnell täuschen. Sheehan und seine Frau schafften die längst durcheinandergeratenen Seiten in ein Schließfach am Busbahnhof, dann zum Flughafen von Boston.

Sheehan flog mit einem Koffer auf dem Sitz neben sich nach Washington, wo er sich mit einem Redakteur mehr als einen Monat in einem Hotel einschloss und die Papierhaufen zu ordnen versuchte. In einem anderen Hotel in New York planten sie zusammen, wie sie aus dem Wust eine lesbare Geschichte machen könnten, von der sie ahnten, dass sie alle Beteiligten in höchste Gefahr brachte. Sheehan erinnerte sich, wie dem Rechtsbeistand der Zeitung die Knie schlotterten: "Seid bloß vorsichtig, redet nicht darüber, die anderen werden es nicht geheim halten können. Wir haben uns höchstwahrscheinlich strafbar gemacht."

Sheehan und seine Kollegen gingen äußerst vorsichtig vor, wie Spione: kein Bargeld, im Hotel unter falschen Namen, die Seiten, die mit Ellsbergs Kürzel gezeichnet waren, verbrannten sie im Grill eines brasilianischen Diplomaten. Die ganze Zeit musste Ellsberg außerdem hingehalten werden. Er durfte nicht wissen, dass sein Schatz bereits im begrenzten Umlauf war, er drängte an die Öffentlichkeit, wollte aber unerkannt bleiben. Das amerikanische Volk sollte endlich erfahren, wie seine Regierung systematisch gegen das Völkerrecht verstieß und über Leichen ging. Ellsberg bot sein Material auch der Washington Post an, wo man die Reaktion der Regierung kaum weniger fürchtete. Im Juni 1971 allerdings, vier Monate nachdem Sheehan Zugang zu den Pentagon Papers erhalten hatte, druckte die New York Times den ersten Artikel und verursachte die größte Vertrauenskrise der Nachkriegszeit. Verrat und Diebstahl erwiesen sich diesmal als journalistische Tugenden. Ellsberg kam ungeschoren davon, Sheehan erhielt mit seinem Team den Pulitzerpreis.

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