Süddeutsche Zeitung

"New York Times":Die Stadtneurotiker

Die Zeitung enthüllt, wie sie 1978 während eines Streiks einmal stilgerecht parodiert wurde - dabei waren sogar auch gut gelaunte Mitarbeiter der "New York Times".

Von WILLI WINKLER

Der Streik dauerte fast drei Monate. Vom 10. August 1978 an mussten die Stadt New York und der davon abhängige Erdkreis ohne die New York Times auskommen. Keine schwerfällige Berichterstattung über die Salt-Verhandlungen, den Finanzmarkt oder einen Großautor, der wieder einen Roman geschrieben hatte, der dem vorigen glich wie ein Buch dem anderen. Niemand erfuhr, dass nach Paul VI. auch sein Nachfolger Johannes Paul gestorben war, dass Menachem Begin und Anwar al-Sadat, angeleitet von US-Präsident Jimmy Carter, in Camp David einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten verabredet hatten, oder dass es in Teheran schwere Unruhen gab, die in der Folge zum Sturz des Schahs führen sollten. Keine bräsigen Kommentare zur Weltlage, keine Sprachkritik von William Safire, keine Gastro-Kolumne Craig Claiborne und - was die Abonnenten am meisten geschmerzt haben wird - natürlich kein Kreuzworträtsel.

Am 23. Oktober 1978, der Streik ging allmählich dem Ende zu, gab es die Zeitung plötzlich wieder. Sie lag in bewährter Stapelform an den Kiosken und U-Bahn-Eingängen aus und informierte im ebenfalls bewährten trockenen Ton über die neuesten Ereignisse. Der linken Aufmacherspalte konnten die Leser entnehmen, dass ein Teil der Queensboro Bridge unter dem Gewicht des Marathons am Tag davor "tragisch eingebrochen" war. Der Veranstalter führte bittere Klage und wurde wie folgt zitiert: "In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viele fette Menschen gesehen." Über fünftausend Teilnehmer besäßen einen Abschluss: "Die hocken Jahre in einem College herum, trinken Bier und ernähren sich von Obstkuchen, und dann sehen sie aus wie Schweine."

Im Ernst? Der Kopf der Zeitung war an diesem Tag um ein Wort erweitert worden, sie hieß Not The New York Times, und auch das Motto war, damit nur ja keiner in die Irre geführt werde, um die Negation erweitert worden: "All the News Not Fit to Print" (Alle Nachrichten, die nicht zum Druck geeignet sind).

Diese Zeitung, vom Nachrichtenstil bis zur Titelei, von den Anzeigen bis zu den Leserbriefen dem Original nachgestaltet, erschien nur ein einziges Mal. Erst jetzt hat ein Reporter der New York Times recherchieren können, wer an dieser Sondernummer, die in einem hochkonspirativen Zirkel um den Schriftsteller George Plimpton entstand, beteiligt war. Jetzt, wo niemandem mehr mit Kündigung zu drohen ist, haben sich auch etliche Mitarbeiter der echten Times dazu bekannt. Zu den Beiträgern gehörte der Watergate-Aufklärer Carl Bernstein, seine damalige Frau Nora Ephron, später die Drehbuchautorin von Harry und Sally, und der Humorist Terry Southern, der bereits bei der Atomkriegssatire Dr. Seltsam mitgewirkt hatte. Bei gutem Essen und nicht wenig Champagner spielten sich die Autoren Ideen zu und dachten sich höheren Blödsinn aus. Zum Beispiel, dass Rudolf Hess, der letzte Gefangene in Spandau, aus Protest gegen die Haftbedingungen "sich selber als Geisel genommen" habe.

Ein Autor namens "Rich Miser" (reicher Pfennigfuchser) weiß von einem Team von 35 Reportern, das, unterstützt von Kartographen und Faktenprüfern, in monatelanger Recherche herausgefunden hat, dass eine Droge namens "Kokain" nicht bloß populär sei, sondern vorwiegend durch die Nase aufgenommen werde. 1978 war das Drei-Päpste-Jahr, und die Parodisten erlaubten sich den Scherz, gleich noch einen, den sie John Paul John Paul nannten, nach bereits 19 Minuten im Amt sterben zu lassen. Die Schweizer Garde wurde zur Grenzsicherung ins Westjordanland abgeordnet.

Die Anzeigen wurden nicht weniger liebevoll entworfen, boten fürs mitleidige Herz teures Porzellan mit aufgebranntem hungernden Kind oder offerierten den "Annie-Hall-Look", mit dem Diane Keaton in Woody Allens Film Der Stadtneurotiker auffiel, als letzten Schrei für Männer: "Die Flanellhosen mit Bügelfalten extra baggy."

In zwei Punkten erwiesen sich die Parodisten geradezu als Hellseher: Bereits vor 41 Jahren war von "Me too" die Rede, allerdings ging es um einen Tarifabschluss der Feuerwehrleute, dem sich auch andere ("me too") anschlossen. Weiter hinten findet sich ein Rezept für "Chauve-souris", zu Deutsch: die Corona-verdächtige Fledermaus, die, wie der Kenner wissen lässt, "lange als ungenießbar galt, aber neuerdings wieder die kulinarische Wertschätzung erlangt, die sie im dunklen Mittelalter genoss". Bon appétit!

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Quelle:
SZ vom 07.04.2020
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