Neues Web-Magazin:Kommune für Kritiker

Neues Web-Magazin: Sieglinde Geisel ist Journalistin und Autorin. Von 1994 bis 1998 war sie Kulturkorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung in New York.

Sieglinde Geisel ist Journalistin und Autorin. Von 1994 bis 1998 war sie Kulturkorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung in New York.

(Foto: oh)

Anspruchsvoll wie das Feuilleton, spontan wie ein Blog: Das Online-Magazin "Tell", das im Frühjahr erscheint, will ein literarischer Salon für das Digitalzeitalter werden und die Kriterien der Kulturkritik transparent machen.

Von Viola Schenz

Das Wörtchen "Tell" steht für einiges: für einen Schweizer Armbrustschützen und Freiheitshelden etwa, für verräterisches Verhalten beim Poker, eine politische Zeitschrift in der Schweiz hieß Tell, und im Englischen meint es "erzählen". Bald wird auch ein Online-Magazin so heißen, und es wird die anderen "Tell"-Bedeutungen in sich führen: erzählen will es, einiges verraten auch, eine Zeitschrift ist es irgendwie, und treffsicher wie Wilhelm Tell will es obendrein sein. Tell soll im kommenden Frühjahr starten, als Magazin für Literaturkritik, und was sich seine Gründer vornehmen, klingt ehrgeizig, wenn nicht gar nach Neuerfindung: Neue Formen wolle man ausprobieren, und überhaupt: die Kriterien der Kritik transparent machen.

Hinter Tell steht die Journalistin und Autorin Sieglinde Geisel. Die gebürtige Schweizerin mit schwäbischen Eltern arbeitet von Berlin aus für die Neue Zürcher Zeitung und für Deutschlandradio Kultur, außerdem unterrichtet sie Literaturkritik an der Freien Universität. Mit sieben Kollegen (Schriftsteller, Kritiker, Journalisten, Übersetzer, Blogger) bereitet Geisel das Projekt vor. "Tell soll den Anspruch des Feuilletons mit der Spontanität von Blogs zusammenbringen", sagt Geisel. Im Internet habe sich eine rege Laien-Bloggerszene entwickelt, vor allem habe sich etwas geändert im Verhältnis von Lesern zur Literaturkritik, "die Leser von heute wollen mitreden". Das bewiesen die Debatten auf Facebook, Twitter, in den Kommentaren der Literaturblogs. Für dieses Bedürfnis nach Austausch fehle bisher ein zentraler Ort, fährt die 50-Jährige fort. Tell soll so etwas sein wie eine "moderierte Öffentlichkeit für alles, worüber es sich in der Literatur zu streiten lohnt". Eine Art literarischer Salon des Digitalzeitalters also, könnte man sagen. Daher soll es auch Audio-Beiträge geben und Videos, vor allem aber den Dialog mit den Lesern. Die Auswahl? "Wir schreiben darüber, worauf wir Lust haben, und darüber, was wir wichtig finden."

Nun ist die Welt nicht gerade arm an Literaturkritik, kaum eine Zeitung oder Zeitschrift, kein öffentlich-rechtliches Programm verzichtet darauf, es gibt zentimeterdicke Literaturbeilagen zu Buchmessen, es gibt diverse Websites und Blogs, auf Handelsportalen wie Amazon hat sich längst eine Rezensentenkommune etabliert. Brauchen wir wirklich noch ein Portal für Literaturkritik? "Wir begründen die Urteile, das ist der Unterschied", sagt Geisel. Man wolle Leser nicht mit pauschalen Kritikersätzen wie "Das Buch ist souverän erzählt" alleine lassen, sondern erklären, was damit gemeint sei. Geplant sei auch, die Leser direkt in eine Kritik kommentieren zu lassen, à la: Das habe ich aber ganz anders gesehen.

Idealerweise soll sich das Portal durch die Leser und deren Spenden finanzieren, so Geisel. Es soll keine Bezahlschranke geben, die würde der Idee einer offenen Debatte widersprechen. Man sei außerdem auf der Suche nach Sponsoren und Mäzenen, habe schon diverse Stiftungen angeschrieben und bewerbe sich außerdem bei der Digital News Initiative von Google um Geld. Möglichst breit gestreut sollen die Geldquellen sein, so Geisel. Eben: Wilhelm Tell steht ja nicht nur für Treffsicherheit, sondern auch für Unabhängigkeit.

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