Am 7. Januar kam er zu spät. Er hatte Geburtstag, wurde 43, seine Frau hat noch mit ihm gefeiert in der Früh, nicht ahnend, dass sie ihm damit das Leben rettet. Als er dann ankam am Redaktionsgebäude, hörte er von draußen das Rattern der Maschinenpistolen und sah die Brüder Kouachi davonstürmen. Als er die Treppe hochstieg, lagen da elf Tote und viele Verletzte.
Er selbst musste an dem Abend noch aufs Kommissariat. Nicht als Luz, der Zeichner, sondern als Renard Luzier, der Augenzeuge. Als der Polizist ihn fragte, was er gesehen habe, bat Luz um einen Stift. Er fing an zu zeichnen, zitternd, zwei riesige Augen, kreisrund. Immer wieder dieses Augenpaar, an dem ein dürrer schrecksteifer Körper hing. Er malte also nicht, was er gesehen hat, sondern wie er es gesehen hat: schutzlos, unter Schock.
Eine Woche später schaute Mohammed mit diesen Augen in die Welt: Luz zeichnete das Titelbild für die erste Ausgabe "danach": Der Prophet hält den Spruch hoch, unter dem sich in den Tagen zuvor Frankreich und die ganze Welt versammelt hatte: "Je suis Charlie". Darunter: "Tout est pardonné", alles ist vergeben.
Wenn es doch nur so einfach wäre. Am Donnerstag dieser Woche erscheint Catharsis, ein Band mit Zeichnungen und Bildgeschichten, die Luz seit jenem 7. Januar verfasst hat. Der Band beginnt mit jenem angststarren Augen-Blick aus dem Kommissariat. Und er zeigt auf den dann folgenden 128 Seiten, wie es hinter diesen Augen aussieht. Geschichten aus der Dunkelkammer der Angst. Versuche, sich den Terror von der Seele zu zeichnen, wiederkehrende Traumaträume: Er, der Zuspätkommer, nimmt Platz in der Charlie-Konferenz und erzählt begeistert von seinen Ideen für die Ausgabe von dieser Woche, wir machen was über Valérie Trierweiler, Jungs, das wird groß, ich notier das mal, Scheiße, wo kommen die roten Flecken her. Während er redet, lacht und manisch agiert, merkt er nicht, dass die linke Hälfte seines Kopfes weggeschossen wurde, er sitzt da mit blutendem Schädel (apropos: Rot ist die einzige Farbe in diesem ansonsten tintenschwarzen Buch, blutrot, wutrot und ab und zu das rettende Rot der Liebe).
Ein Leidensschmarotzer hängt sich an Luz, bis der vollständig verschwindet
Er allein auf dem Friedhof. Luz hatte die Trauerrede auf seinen besten Freund, den Chefredakteur, gehalten, "Charb, mon amant", so innig, so ergreifend, dass halb Paris darüber spekulierte, ob die beiden ein Paar waren. Jetzt sitzt er am offenen Grab und erzählt dem unsichtbaren Toten, was er alles gesagt hat bei der Beerdigung. Schließlich aber erhebt sich nicht Charb aus der dunklen Grube, in die er die ganze Zeit hineinmonologisiert hat, sondern er selbst, der sich anschnauzt, er solle endlich aufhören mit diesen Selbstgesprächen.
Oder der "Vampir", einer dieser Leidensschmarotzer: Leser, Fan, Franzose, irgendjemand, der sagt, wie sehr er Anteil nehme, schrecklich das alles, darf ich Sie in den Arm nehmen? Er umarmt Luz, redet und redet, was glauben Sie, was ich gelitten habe, toll, dass ihr weitermacht. Er wächst in seinem Umarmungsmonolog zu einer Art tropfendem Trauersack heran, in dem Luz vollständig verschwindet. Am Ende geht der Andere davon, lächelnd, gestärkt, danke für alles, macht unbedingt weiter! Von Luz aber ist nichts mehr da außer seinem Gesicht und einem reisigdürren Körper.
Einiges ist auch sehr lustig, etwa der Moment, als ein Islamist einen verpatzten Tintenklecks entdeckt und schreit, Luz zeichne ja schon wieder Mohammed. Okay, sagt Luz entnervt, wenn Sie meinen, machen wir eben den Rorschachtest, also was erkennen Sie in diesem Klecks? "Rorschach?", kreischt der Islamist, "ist das nicht ein jüdischer Name?"
Von einer Katharsis weit entfernt: "Charlie Hebdo" steht vor dem Aus
Am kommenden Donnerstag erscheint Catharsis. Traurigerweise war die Redaktion von einer Katharsis nie so weit entfernt wie heute: Nach dem ersten gemeinsamen Aufbäumen, dem grimmigen Entschluss, weiterzumachen, der Massensolidarität und einem riesigen Spendenstrom steht Charlie Hebdo jetzt vor dem Aus.
Das erste Anzeichen für den fundamentalen Riss, der durch die Redaktion geht, war ein Text, den 15 Mitarbeiter - darunter auch Luz - in Le Monde veröffentlichten und in dem sie mehr Transparenz und eine demokratisch-genossenschaftliche Struktur für das Blatt forderten. Sie richteten sich mit dieser Forderung gegen das neue Führungsgremium, bestehend aus dem Zeichner Riss, dem Generaldirektor Eric Portheault, dem Chefredakteur Gérard Biard und dem Anwalt Richard Malka. Die vier verwalten alleine die enorme Spendensumme von angeblich 30 Millionen Euro, die eigentlich gedacht war für die Hinterbliebenen der Ermordeten. "Keinen Cent haben die Opferfamilien bisher erhalten", sagt nun ein Mitarbeiter, der anonym bleiben will, in einer Hintergrundreportage, die am Wochenende im Online-Magazin Mediapart erschienen ist.
Neuer Streitpunkt: Vergangene Woche erhielt die langjährige Mitarbeiterin und Soziologin Zineb El Rhazoui ein Einschreiben der Chefredaktion, in der sie zu einem Kündigungsgespräch geladen wird. Zu lange habe sie ihre Redaktionspflichten vernachlässigt, heißt es in dem Schreiben. Zineb El Rhazoui ist außer sich: Sie, die wegen ihrer islamkritischen Texte Todesdrohungen erhalten habe, sie, die in jeder Ausgabe, die seit den Anschlägen erschienen sei, publiziert habe, obwohl sie von sechs Polizisten bewacht werde und jede Nacht woanders schlafen müsse, werde jetzt von dem Magazin, das sich den Schutz der Meinungsfreiheit auf die blutverschmierte Fahne geschrieben hat, fallen gelassen . . .
Zwei Interpretationen kursieren über die angekündigte Entlassung, die eine so hässlich wie die andere: El Rhazoui, die das Manifest in Le Monde mitunterzeichnet habe, solle pars pro toto abgestraft werden. Noch peinlicher freilich wäre die andere Motivation: Charlie Hebdo wolle mit der Entlassung der islamkritischen Autorin aus der Schusslinie der Fanatiker.
Renard Luzier alias Luz, der Autor von Catharsis, der seit 20 Jahren Teil der Redaktion ist, hat soeben bekanntgegeben, dass er Charlie Hebdo im September verlassen werde. Er halte den internen Streit um Macht und Geld nicht mehr aus. Die Redaktion, die nach den Anschlägen vorübergehend in den Räumen der Liberation untergekommen ist, wird bis dahin ihr neues Domizil bezogen haben, "ultragesichert, an einem streng geheimen Ort", wie das Rathaus von Paris versichert. Ob das der richtige Platz ist, um ein freies, mutiges Satireblatt zu machen?