Neue Staffel "Sherlock" im Ersten:Totgesagte leben länger

Sherlock Der leere Sarg BBC ARD Benedict Cumberbatch

Smarter als sein Phone: Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch) googelt andauernd, weiß im Zweifel aber schnell mehr über sein Gegenüber als der eifrigste Nutzer der Suchmaschine.

(Foto: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2)

In der dritten Staffel der BBC-Serie "Sherlock" löst der Privatdetektiv wieder gewohnt ruppig und elegant gekleidet seine Fälle. Die neuen Filme sind exzellent, aber ein wenig übermütig. Eine Begegnung mit den Machern und Hauptdarsteller Benedict Cumberbatch.

Von Martin Wittmann

Ein kurzer Obduktionsbericht zur verständlicheren Rückschau: Sherlock Holmes war mausetot. Niemand scherte sich um die Figur, außer vielleicht noch jene, die vom Ohrensessel aus ihre zerbröselnden Klassiker im Bücherregal bewunderten, mit müden Augen unter grauen Brauen. Das moderne Publikum aber maß die Lebendigkeit jeder literarischen Figur an deren neuzeitlicher Fernsehpräsenz, Popcorn statt Tee. Hercule Poirot, Kommissar Maigret oder Holmes - allesamt schildkrötenalte Hasen im Krimigeschäft, ihre Geschichten vergilbt wie die Wörter Tausendsassa und Meisterdetektiv. Ihre Namen? Nicht viel mehr als Antwortmöglichkeiten im Quizduell.

Von 2010 an aber lebte Sherlock Holmes wieder, und wie. Die BBC strahlte neue Fälle des Detektivs aus, sechs neunzigminütige Folgen. Im Remake-, Fortsetzung-, Adaptionswahnsinn der feigen Unterhaltungsgegenwart war Sherlock das einzige Beispiel, das seine Vorlage sexyer und cleverer erscheinen ließ, als sie womöglich wirklich war. Danach wollten sich Fernsehpublikum und -kritiker in mehr als 200 Ländern kaum mehr an eine Zeit ohne ihn erinnern, zu spektakulär und revolutionär war die Neuerfindung.

Das Problem: Sherlock Holmes, so lebhaft er als Phänomen wieder gewesen ist, war schon wieder tot - am Ende der zweiten Staffel lag er mutmaßlich oder vermeintlich verschieden auf dem Trottoir, nach einem freiwilligen und doch unvermeidlichen Sturz von einem Hochhaus, auf dessen Dach offenbar die Leiche seines Erzfeindes Moriarty lag. Alles nicht so einfach.

An diesem Donnerstag nun startet die dritte Staffel der Serie in der ARD (21.45 Uhr). Sie heißt noch immer Sherlock, und so ist nicht zu viel verraten, wenn man den Tod des Detektivs passender eine Auszeit nennt. Auch die neuen drei Fälle sind exzellent, wenn auch in Teilen allzu übermütig. Was nach vier Jahren Hysterie bleibt, sind Fragen. Nicht nur: Was haben die Macher der Serie bloß aus dem alten Sherlock gemacht? Sondern auch: Was hat der neue Sherlock bloß aus den Machern gemacht?

Cardiff, Wales, Drehort auch der dritten Staffel. Die Traumfabrik steht am Stadtrand, in der Gegend der ernsthaften Fabriken. Die Tür der berühmten Adresse Baker Street 221B steht von einer kleinen Häuserfassade umrandet in der Halle, daneben ein Pappkarton mit der Aufschrift "Sherlock Model", in der das Architektenmodell der Wohnung des Detektivs liegt. Ein paar Meter weiter steht sein echtes Wohnzimmer. Im Sessel sitzen: Mark Gatiss, 47, und Steven Moffat, 52, die Entwickler von Sherlock. Die beiden lehren die Zuschauer, wie nah sich mutmaßlich und vermeintlich stehen, wie es möglich ist, freiwillig und doch unvermeidlich in die Tiefe zu stürzen, wie das zeitgenössische London sehr wohl zum Wort Meisterdetektiv passt.

Vor der Serie waren sie in Großbritannien angesehen, Gatiss aufgrund der Serie The League of Gentlemen, zusammen wegen der Serie Doctor Who. Heute werden sie gefeiert als Genies. Im Gespräch schwärmen sie vor allem von zwei anderen Männern.

Arthur Conan Doyle hat die Fernsehserie erfunden

"Ich habe die Geschichten von Arthur Conan Doyle natürlich als Kind verschlungen und später im Fernsehen bewundert. Er ist wohl der am häufigsten porträtierte Held der Literatur", sagt Gatiss und hört sich dabei kaum gespreizter an als Sherlocks Bruder Mycroft, den er in der Serie darstellt. "Doyle hatte schon damals die geniale Idee, Holmes seine eigenen Abenteuer lesen zu lassen, aus der Feder von Watson. Und sie gefielen ihm nicht mal", fährt Moffat fort. "Mit seinen Geschichten, die alle den selben Protagonisten haben und doch einzeln zu verstehen sind, hat er quasi die Fernsehserie erfunden". So gesehen hat Doyle 56 Episoden, also Kurzgeschichten, und vier Filme, also Romane, über den Detektiv hinterlassen, als er 1930 mit 71 Jahren gestorben ist.

"Als unsere Pläne bekannt wurden, eine moderne Sherlock-Version zu drehen, schrieb eine Zeitung: Ohne Gaslampen und ohne Nebel dürfe man das nicht", erinnert sich Moffat. Später habe der Kritiker sich in einem hymnischen Artikel für seine Fehleinschätzung entschuldigt. Moffat sieht aus dem Fenster, wo London als Leinwand hängt. Hinter Glas hängen aufgespießte Käfer und Fledermäuse herum, auf dem Lesetisch steht ein Rioja, daneben liegt die Waffenzeitschrift Guns&Ammo.

"Sherlock" hat die Parameter für Attraktivität verändert

Bei den Zuschauern sei die Rezeption ähnlich verlaufen, nicht nur, was die phantastischen Einschaltquoten beträfe, sondern ganz real. "Am Anfang haben unsere Außendrehs an der Baker Street niemanden interessiert. Martin wurde manchmal erkannt, sonst war es ruhig", sagt Gatiss und meint Martin Freeman, der Dr. Watson spielt. "Wenn wir jetzt dort drehen, brauchen wir Absperrgitter. Hunderte Menschen stehen da herum. Es ist, als würden wir eine Sitcom mit Live-Publikum drehen." Was sich an der Arbeit geändert habe? Nachdem sie mit ihren modernen Gadgets in der Serie so viele Nachahmer inspiriert hätten, sei es nun ihre Aufgabe, das eigene Werk dagegen nicht alt, nicht "a bit passé yourself", aussehen zu lassen.

Mit den Nachahmern sind auch die amerikanischen Kollegen gemeint. Die hatten die beiden Briten erst um die Entwicklung einer US-Version gebeten, und als die ablehnten, einfach eine eigene produziert: Elementary. Die Unterschiede zur britischen Serie Sherlock: Die Serie spielt in stilarmen New Yorker Milieus, die Folgen dauern 45 Minuten und haben kaum Zeit für Charme und Unsinn. Sherlock Holmes wird in ihr eingeführt als Beau, der oben ohne fernsieht.

Der britische Sherlock hingegen meldet sich zum ersten Mal via SMS zu Wort: "Falsch" schickt er an die Journalisten, die in einer Pressekonferenz die zweifelhaften Schlüsse der verzweifelten Polizei notieren. Wenn er in Erscheinung tritt, dann als Erscheinung: Sein Kleidungsstil füllt englische Modeblogs, sein Mantel (Belstaff) ist die neue Rüstung der Gutgekleideten im Schlechtwetterland. Kurz: Gatiss und Moffat ist nicht bang, sich mit der Konkurrenz zu messen. Außerdem, sagt Moffat, "haben wir versehentlich den angesagtesten Schauspieler der Welt gecastet".

Gemeint ist natürlich Benedict Cumberbatch, den gleich die erste Folge berühmt werden ließ, oder wie Moffat sagt: "Erst war er der Typ mit dem komischen Namen, 90 Minuten später war er ein Star." Tatsächlich war der übertalentierte Cumberbatch 2010 noch ein Unbekannter, der nach zu vielen Allergien und zu wenig Weibergeschichten aussah und Stephen Hawking spielte. Er hat seither die steilste Karriere erlebt, er hat noch mehr vom Detektiv profitiert als andersherum, spielte in "Star Trek Into Darkness" und "12 Years a Slave".

Vor allem aber lässt sein Pathologen-kühles Charisma, zusammen mit dem guten Herrenausstatter und einem flinken Drehbuch, den Soziopathen Holmes nicht nur sympathisch erscheinen - es hat die ehedem pfeifenrauchende Spürnase mit der Mütze zum Sexsymbol gemacht. Und seinen Darsteller gleich mit dazu. Wenn man so will, hat die Serie das gängige Schönheitsideal verändert: Cumberbatch, das echte Sherlock-Model.

Er sitzt nebenan in einem Besprechungsraum, gut gelaunt, hektisch. Was sich geändert hat, seit er ein Superstar ist? "Die Leute hier müssen in meiner Gegenwart zu Boden blicken und mich Sir Cumberlord nennen", scherzt er. Tatsächlich hätte sich nur die Aufteilung der Wohnwagen am Dreh verbessert: "Bei der ersten Staffel waren wir zu dritt in einem, bei der zweiten zu zweit, und nun hat jeder einen eigenen". Cardiffer Glamour.

Mehrseitigen Dialog in Sekunden runterrattern

Cumberbatch spricht über seine Figur: Die Herausforderung der Drehbuchschreiber bestehe darin, den alten Helden mit seinen außerordentlichen Fähigkeiten in eine Welt zu schicken, in der es CSI, also polizeilich Spurenermittlung am Tatort, bereits gebe - als Ermittlungs- wie als Unterhaltungsmethode. Seine eigene größte Herausforderung seien die Sherlock-typischen Deduktionen - ein seitenlanger Monolog im Drehbuch müsse in ein paar Sekunden heruntergesprochen werden. Wundert er sich, wie sympathisch diese klugscheißende Figur ankommt? "Früher wäre es keine Frage gewesen, ob einer wie Sherlock gut ankommt bei seinen Mitmenschen. Er war ein Held, allein aufgrund seines Status haben sich viele Türen geöffnet, die dem modernen Sherlock verschlossen bleiben. Der geht den Leuten auf die Nerven, er ist ihnen suspekt", sagt er. In einer Welt, in der Datensammler wie Google die Menschen ängstigen, ist einer wie Sherlock tatsächlich verdächtig: Er weiß von seinem Gegenüber nach ein paar Sekunden mehr als diesem lieb sein kann. Der Unterschied zu Google: statt diese Erkenntnisse heimlich abzuspeichern, schleudert Sherlock sie den Menschen ins Gesicht. Die Zuschauer freuen sich über jeden Treffer, zumal Sherlock dabei hemmungslos vorgeht. Moffat sagt: "Wir legen ihm in den Mund, was wir selber gerne sagen würden, aber nicht können. Weil wir in diesen Momenten entweder nicht clever oder nicht unverfroren genug sind."

Kurz: Zu den vielen Talenten, die einen Tausendsassa bewundernswert machen, gehört auch das, ein Arschloch zu sein.

Sherlock - Der leere Sarg, ARD, Donnerstag, 21.45 Uhr

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