Hinzu kommt, dass die wenigsten wissen, dass viele Boulevardjournalisten, Fotografen und Kameramänner tagtäglich mit so viel Sex and Crime zu tun haben wie kaum eine andere Berufsgruppe - zumindest ohne darauf hinreichend vorbereitet oder dafür ausgebildet worden zu sein. Das lässt manche von ihnen auf Dauer abstumpfen und zieht auf der anderen Seite manche an, die eine Lust daran verspüren, dabei über das übliche Maß hinaus mitzumischen und fordert zum Dritten einige heraus, immer auf der Jagd nach dem noch größeren Kick zu sein, um ihre Karriere zu befördern oder ihren Job überhaupt zu behalten. Natürlich gehen nicht alle so verantwortungslos mit den ihnen anvertrauten Geschichten und menschlichen Schicksalen um. Doch es gibt genügend Beispiele dafür, dass es zu viele sind, die ihre Macht missbrauchen. Ob nun aus eigenem Antrieb oder den vermeintlichen Gesetzen des Marktes gehorchend. Weil im Zweifel der Kollege nicht die gleichen Skrupel an den Tag legt wie man selbst.
Ebenfalls ein prominentes Opfer des Abhörskandals um "News of the World": Schauspieler Hugh Grant soll als Zeuge aussagen.
(Foto: AP)Warum ist es so, dass über die oft unbilligen Zustände immer nur in Ausnahmefällen berichtet wird? Weil es zum Geschäft gehört, dass sich diejenigen Medien, die sich solcher Methoden bedienen, durchaus bewusst sind, dass sie gute Anwälte brauchen, um die Methoden im Zweifelsfall verteidigen zu können. Weil die wenigsten gerne die vermeintliche Krähe sein wollen, die der anderen ein Auge aushackt. Und weil seriösere Medien, die nicht so arbeiten und deren Journalisten sich solche Praktiken auch oft genug gar nicht vorstellen können, im Zweifelsfall ungern Kollegenschelte betreiben, ohne genau darüber Bescheid zu wissen. Zumal wenn sich die Vorwürfe in einer rechtlichen Grauzone bewegen - und von betroffenen Einzelpersonen stammen, die weder das Geld noch die Zeit noch den Mut oder die auch nur sprachlichen Möglichkeiten haben, die ihnen zugefügten Ungerechtigkeiten angemessen zu adressieren und zu äußern.
Prominente wie Jude Law und Sienna Miller, die ebenfalls von Rupert Murdochs News of the World belästigt und abgehört worden waren, können im Zweifel mit Hilfe ihrer Prominenz, ebenfalls guter Anwälte und ein wenig Mut gegen solche Praktiken vorgehen, Schmerzensgelder verlangen oder dazu beitragen, dass sich solche Fälle zumindest bei ihnen selbst nicht wieder ereignen. Ottfried Fischer mit seinem Prostituierten-Skandal oder Charlotte Roche, die zu ihrem Familiendrama kein Interview geben wollte, sind deutsche Beispiele für Prominente, die sich mehr oder weniger erfolgreich gegen zweifelhafte Methoden der Berichterstattung zur Wehr gesetzt haben.
Aber was, wenn das vermeintliche oder tatsächliche Opfer eines Schmierenjournalismus nicht die Möglichkeit oder nicht die Absicht hat, zu kämpfen? Ganze Formate leben davon, sich und das Auge des Zuschauers oder Lesers am Elend ihrer Protagonisten zu weiden.
Nur ein weiteres Beispiel aus der Alltagspraxis dazu:
Zum Geschäft gehört, Opfer durch Honorarverträge an ein Medium zu binden. Verträge, die wie Knebel verwendet werden können. Wie in diesem Fall, der nirgends dokumentiert und trotzdem passiert ist: Der Reporter eines TV-Formats macht ein Interview mit der Ehefrau eines kürzlich verstorbenen Mannes aus. Sie war mit ihrem Mann in der Notaufnahme eines Krankenhauses abgewiesen worden, obwohl der Mann über unerträgliche Kopfschmerzen geklagt hatte. Am nächsten Morgen war der Mann tot. Ein gefundenes Fressen für den TV-Reporter, der gerne mit der Witwe und einem ihrer zahlreichen Kinder über ihre Gefühle und ihre Wut gesprochen hätte. Tatsächlich öffnet ihm die Frau tränenüberströmt die Tür - allerdings bezieht sich ihre momentane Fassungslosigkeit weniger auf die Ärzte im Krankenhaus als vielmehr auf den Kollegen von dem Boulevardblatt, das mit ihr einen Exklusivvertrag abgeschlossen hatte. Der drohte ihr nun, sie aus der eigenen Wohnung zu schmeißen, sollte sie dem Kollegen vom Fernsehen das vorher abgemachte Interview geben. Die Frau hatte in ihrer Notlage eingewilligt, exklusiv nur dem Blatt Auskunft zu geben, das im Gegenzug dafür die Finanzierung der Wohnung der vaterlos gewordenen Großfamilie übernehme. Sollte sie nun vertragsbrüchig werden, so die Drohung, könne sie gleich ihre Sachen packen.
Der Boulevardjournalismus mag eine seichte Form des Journalismus sein. Seine Mitarbeiter und Lenker sollten jedoch aufpassen, dass sie nicht laufend jene Moral verhöhnen, die sie in ihren Publikationen einfordern. Es ist Heuchelei und es verstößt oft genug gegen den Kodex des Presserats - aber es gehorcht der Systemlogik: Die Bespitzelung des Privatlebens von Spitzenpolitikern gehört zum Alltagsgeschäft. Ebenso die Nötigung und Erpressung von Privatpersonen, die sich durch was auch immer hervorgetan gehaben. Und sei es durch ihr Leid. Auflage kann eben ein schmutziges Geschäft sein.
Wenn nun in Großbritannien Politiker und Chefredakteure sich überschlagen, Empörung zu demonstrieren in einem Fall, der besonders perfide ist, dann verkennt das eine Kleinigkeit: Der Fall um die 13-jährige Milly, deren Handy angezapft wurde, eignet sich zwar gut dafür, die Branche einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Er eignet sich aber keinesfalls dafür, ihn als traurigen Einzelfall abzustempeln, und diejenigen, die daran beteiligt waren, als Nestbeschmutzer auszusortieren. Im Gegenteil. Mögen die Methoden in diesem Fall auch besonders perfide erscheinen - sie sind mitten unter uns.