Neue Fernsehserie "The Man in the High Castle":History sells

In der neuen Fernsehserie "The Man in the High Castle" haben die Nazis die USA besetzt: Beim Fernsehen schauen wir dieser Tage am liebsten in die Vergangenheit. Das passt zu unserer Zeit.

Von Gerhard Matzig und Karoline Meta Beisel (Grafik)

Die amerikanische Fernsehserie The Man in the High Castle, produziert von Ridley Scott (Alien), lässt die deutschen Gigantomanie-Träume von einst wahr werden. Hitlers USA-Dependance, das "Great Nazi Reich", erstreckt sich nun in Form eines teutonischen Marionettenstaates von New York bis Colorado. Denn die Deutschen haben in der gleichnamigen, 1962 erschienenen Romanvorlage von Philip K. Dick den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Wobei die amerikanische Westküste von den Japanern besetzt ist - während sich die Amerikaner in die Rocky Mountains zurückziehen mussten. Es ist aber wohl nur eine Frage der Zeit, bis Albert Speer sen. die Rockies arisiert und zur Alpenfestung umbaut.

Das Genre dieser entzückenden TV-Idee nennt sich "Alternate History". Es ist eine Was-wäre-wenn-Story. Geistesgeschichtler kennen das als kontrafaktische Geschichtstheorie - und im übrigen dürften sie sich darüber wundern, dass dieses sonst so akademische Spezialgebiet ins Fernsehen findet. Dorthin also, wo der Sex gerade (wenn wir die 50er-Jahre-Serie Masters of Sex einmal außer Acht lassen) von der Historie abgelöst wird: History sells.

Tatsächlich boomt Historien-TV allerorten. Wann immer man sich durch die Programme zappt und durch die Portale und Dienste wischt: Unweigerlich landet man in einer Dauerschleife des Telekollegs für Historiker. Nie zuvor war im Fernsehen so viel Geschichte zu sehen - oder wird demnächst zu sehen sein. Ob Ben Kingsley als Großwesir Tutanchamuns ab Juli bei Amazon Prime zu sehen ist, ob wir uns für die Abenteuer des jungen Marco Polo begeistern (Netflix) oder, auf Arte, in Form der Serie 1864 den Deutsch-Dänischen Krieg reanimieren; ob Maximilian von Habsburg, die Tudors oder die antiken Götter nach der Macht greifen: Wir sind dabei. Wenn wir mit dem Fernseher in die Ferne gucken, dann sehen wir nicht das, was kommt, sondern das, was war.

Das große Es-war-einmal als Quotenbringer

So viel medial verbreitete retrospektive Kulturgeschichte gab es niemals zuvor. Es ist, als hätte sich das "raunende Beschwören des Imperfekts" (Thomas Mann, siehe Heinrich Breloers dreiteiligen Fernsehfilm Die Manns, 2001), das große Es-war-einmal endgültig als Quotenbringer Nummer Eins etabliert. Wobei die telegenen Geschichtsstunden mal besser, mal schlechter glücken. Mal könnte man tatsächlich den Begriff des seriösen Bildungsfernsehens bemühen, mal ist es eher so, als seien Tine Wittlers "Dokutainment"-Reihe und Guido Knopps Erfindung des "Dokudramas" vor dem RTL-Altar einen unheiligen Bund der Ära und der Geschichtsbespaßung eingegangen, gegen den sich Disneys Märchenimperium wie ein altehrwürdiger Historiker-Kongress ausnimmt.

Ob aber die Bildungsbilanz nun positiv oder negativ ausfällt, in jedem Fall fügt sich das neue Rückwärtsfernsehen passgenau in unsere Zeit. In Berlin wurde gerade das Richtfest für das rekonstruierte Schloss gefeiert, das "Almdorf Seinerzeit" wirbt als topmodernes Feriendomizil mit dem fassadenhaften "Wunsch nach Ursprünglichkeit" und in Niedersachsen, wo der älteste deutsche Museums-Dampfzug vor sich hinröchelt, spielen passionierte Eisenbahner das Reisen "wie vor 100 Jahren" nach. Bei Manufactum kaufen wir die Es-gibt-sie-noch-die-guten-Dinge, die wir dann im Retro-Quinquecento, im reanimierten Beetle oder im Weißt-du-noch-Mini nach Hause karren - in das Loft mit jenen neuen Möbeln der Vintage-Ära, die aus dem künstlichen Alterungsbad stammen.

Eine einzige grandiose Gedenkfeierlichkeit

Die Retro-Welle, die Heino und die Stones nicht in Rente gehen lässt, ist ein Tsunami, der die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Das Leben in der Gegenwart ist eine einzige grandiose Gedenkfeierlichkeit.

Die Hingabe zum Alten ist ein junges Phänomen. Das Geschichtsbewusstsein ist, ob in Form artifizieller Ästhetik oder als identitätsstiftende Geschichtsvergewisserung, mit der Aufklärung verbunden. Die Geschichtswissenschaften gibt es zwar, seit man sich Geschichten erzählt, seit Herodot, aber erst im 19. Jahrhundert (Historismus) wurde die Vergangenheit dem Raunen entrückt und wissenschaftlich gesichert. Das ist gut so - auch für die Zukunft.

Der Welt und der Gegenwart recht fern

Die vorpatinierten Regenfallrohre aus dem Baumarkt? Geschenkt. Dennoch ist es bitter, dass genau dann, wenn die Probleme der Gegenwart am größten sind, wenn die Fliehkräfte der Globalisierung wirken und wir als Erben des fossilen Wahnsinns vor einem Abgrund stehen, wenn Elend, Hunger, Krieg und Not auf der halben Welt regieren, dass wir genau dann, wenn wir nach vorne schauen müssten, um Lösungen zu finden, die leider nicht im Biedermeierrahmen des Kupferstichkabinetts ruhen, uns so sehr mit dem ständigen Zurückschauen aufhalten. Fernbedienungsbequem. Und überhaupt der Welt und der Gegenwart recht fern.

Aber vielleicht ist das schlicht ein Antidot zu jenen utopischen Futurismen, die in der Moderne nie eingelöst wurden. Ein Remake der weltraumbefahrenden Jetsons würde uns folglich so wenig helfen wie eine Neuauflage der steinzeitlich-ironischen Flintstones.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: