Netflix-Serie:Erst Dance-off in der Disco, dann Schießerei

The Get Down

Runter von der Straße, rein in die Disco: The Get Down erzählt von der South Bronx als energiegeladenem Ort grenzenloser Möglichkeiten.

(Foto: Netflix)

Baz Luhrmann inszeniert in "The Get Down" die Geburt des Hip-Hop im New York der Siebzigerjahre. Er kommt dabei ganz ohne weiße Erlöserfigur aus.

Von Alexander Menden, London

Baz Luhrmann spricht in einer Minute so viel wie die meisten Menschen in fünf. Äußerlich entspannt auf einem Sofa in einem Londoner Hotel sitzend, lässt der australische Filmregisseur einen Gedanken- und Motivstrom auf den Interviewer niedergehen. "Das hier ist wie eine Therapiesitzung für mich", sagt er. "Ich finde, während ich spreche, immer neue Dinge über dieses riesige Projekt heraus, an dem wir so lange gearbeitet haben."

The Get Down ist mit geschätzten 110 Millionen US-Dollar Produktionskosten die bisher teuerste Netflix-Eigenproduktion und seine erste Zusammenarbeit mit der Online-Streamingplattform. Luhrmann, 53, berühmt geworden durch Romeo & Julia und Moulin Rouge, hat nicht nur den Pilotfilm für die 13-teilige Serie gedreht. Er war auch deutlich stärker am gesamten kreativen Prozess beteiligt als die meisten anderen prominenten Regisseure, die einem Online- oder Fernsehprojekt ihren guten Namen leihen.

Tatsächlich ist Luhrmann mit seiner Vorliebe für bonbonbunte Alternativrealitäten nicht die offensichtliche Wahl für eine Serie, die in leicht fiktionalisierter Form von der Geburt des Hip-Hop in der South Bronx erzählt. Die Geschichte beginnt 1977 in einem New York, in dem Hausbesitzer Gebäude abfackeln, um das Versicherungsgeld einzustreichen, in dem Korruption und Armut herrschen. Es geht um den Zenit des Disco-Fiebers, um Gangster, Breakdance, Drogen und Graffiti. So gut wie alle Charaktere sind Schwarze oder Latinos. Warum also hat Netflix ausgerechnet einen weißen Australier als kreativen Kopf und Produzenten geholt?

Grandmaster Flash sagte zu Luhrmann: "Boss, als Regisseur bist du ein DJ"

"The Get Down hat mich in einer Weise eingesogen, wie ich es nie erwartet hätte", sagt Luhrmann. "Mich haben neue Welten immer angezogen. Aber diese Welt hat mich, einen Jungen aus der australischen Provinz, wahrscheinlich als Teenager kulturell mehr beeinflusst als irgendeine andere, mit der ich mich je beschäftigt habe. Ich sehe keine Hautfarbe, ich sehe kreative Menschen. Ich identifiziere mich mit diesen Figuren."

Diese Identifikation beeindruckt auch seine Mitstreiter. "Baz hat etwas getan, das ich wenigen weißen amerikanischen Regisseuren zutrauen würde", sagt der New Yorker Autor Nelson George, der am Drehbuch mitgearbeitet hat und einer der ausführenden Produzenten der Serie ist. "Er hat auf die übliche weiße Erlöserfigur verzichtet, die sonst aus kommerziellen Erwägungen immer in eine solche Geschichte eingebaut wird. Er braucht diese weiße Identifikationsfigur nicht. Er identifiziert sich mit den schwarzen Kids, mit den Latinos."

"Wir wollten eine überhöhte Wirklichkeit zeigen"

Ihm selbst, der die späten Siebziger als schwarzer Jugendlicher in der Bronx erlebte, sei es, wie den übrigen Autoren, um einen authentischen Kern gegangen, sagt George. "Aber was wir nicht wollten, war dieses verschwitzte, heiße New York, das man in Hundstage oder Shaft sieht. Wir wollten eine überhöhte Wirklichkeit zeigen." Für ihn als schwarzen Jugendlichen sei New York vor allem ein Ort "grenzenloser Möglichkeiten" gewesen: "Klar, es gab Gangs und Graffiti, aber man hatte auch das Gefühl, dass jederzeit alles passieren konnte. Man konnte in Parks Partys feiern, und die Polizei ließ einen in Ruhe. Heute wäre so etwas undenkbar. Um diese Hoffnung, diesen Ehrgeiz, den wir damals hatten, geht es in der Show."

Diese quasi-historische urbane Realität ist von liebevoll gezeichneten New Yorker Seventies-Archetypen bevölkert, die meisten von ihnen sind Teenager. Da ist Ezekiel (Justice Smith), ein Waisenjunge mit einer poetischen Ader, der sich nicht dazu durchringen kann, vor der Klasse ein Gedicht über seine toten Eltern vorzutragen, dann aber bei einem Battle-Rap aus sich herauskommt. Seine große Liebe Mylene (Herizen Guardiola) träumt von einer Karriere als Disco-Star, was ihre streng religiöse Familie zu unterbinden versucht. Shaolin (Shameik Moore), der sich als eine Art Freerunner durch die Straßen der Bronx bewegt, besorgt für Hip-Hop-Pionier Grandmaster Flash seltene Platten und macht Botengänge für Gangster. Es gibt einen eleganten Bösewicht, den Discobetreiber und Supertänzer Cadillac (Yahya Abdul-Mateen II), und einen ambivalenten, aber charismatischen Immobilienmagnaten, Mylenes Onkel Francisco Cruz (Jimmy Smits).

Wir sind endlich wer

Alle diese Gestalten einzuführen, sei eine große Herausforderung gewesen, sagt Regisseur Luhrmann über seinen anderthalbstündigen Pilotfilm. "Ich wollte den Zuschauern zeigen: Seht her, wir malen hier auf einer riesigen Leinwand. Das sind die Charaktere, das ist die Bandbreite der Erzählformen. Wenn man das auf die gesamte Länge der Serie herunterbricht, dann sind meine ersten zwei Stunden das, was in einem Kinofilm die ersten 15 Minuten sind - man muss damit Aufmerksamkeit erregen."

Luhrmanns Film variiert stilistisch zwischen der Klassenzimmerästhetik von Fame, dem Disco-Glamour von Saturday Night Fever, den hektischen Schnitten und Soundeffekten von Bruce-Lee-Filmen, der Funkiness von Jackson-Five-Videos und der opernhaft stilisierten Brutalität von Spaghetti-Western. Ein Disco-Dance-off endet in einer wilden Schießerei, zwei Minuten später muss man sich auf den Herzschmerz einer Teenagerromanze einstellen, dann geht's weiter zu einer Ghettoparty. Wie so oft bei Baz Luhrmann muss man diese Unebenheiten hinnehmen, will man sich den Zugang zu seiner Filmwelt nicht verbauen. Lässt man sich darauf ein, ist The Get Down auch für jene, die wenig oder nichts von Hip-Hop und angrenzenden Kunstformen wissen, ein Genuss.

"Manchen scheint nicht klar zu sein, dass dieser Stilmix bewusst und gewollt ist", sagt Luhrmann. Szene-Ikone Grandmaster Flash, der nicht nur die Produzenten beriet, sondern auch selbst als Party-Zeremonienmeister auftaucht, sagte zu Luhrmann: "Boss, als Regisseur bist du ein DJ." Tatsächlich, Hip-Hop ist eine Kunstform, die mit Collagen arbeitet, die sich vorurteilsfrei überall bedient - das entspricht auch Luhrmanns Stil: "Du hast keinen Pinsel - nimm eine Sprühdose. Du hast kein Musikinstrument - nimm eine Schallplatte. So haben die Kids damals sich kreativ zu helfen gewusst. Und ich zeige ihre Welt aus ihrer Perspektive."

Am Ende des Pilotfilms warten Ezekiel, Shaolin und ihre Gang auf einem Hausdach auf den Sonnenaufgang und sehen einen Zug vorbeifahren, auf dem sie ihre eigenen Graffiti erkennen. "Das ist der Augenblick", sagt Baz Luhrmann, "der ihnen das Gefühl gibt: Ich bin jemand."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: