Wer schon immer dringend wissen wollte, was die beliebteste Netflix-Serie in El Salvador ist, dem bietet der Streamingdienst ab sofort einen neuen Service an. Auf top10.netflix.com kann man sich für mehr als 90 Länder ansehen, welches die dort beliebtesten Sendungen sind, sortiert nach Filmen und Serien. Die Liste soll künftig immer dienstags aktualisiert werden.
Nun sind nach bald zwei Jahren Pandemie-Couch-Wahnsinn natürlich sehr viele Menschen an Streaming-Fatigue erkrankt. Sie könnten argumentieren, dass es ihnen nicht nur egal ist, was die Salvadorianer gerade für eine Lieblingsserie haben, sondern dass es sie nicht mal interessiert, was die Griechen, die Isländer oder geschweige denn die Deutschen sich gerade wieder für einen Schwachsinn reinziehen.
Trotzdem verspricht die Seite mit den Top-Ten-Listen zumindest auf den ersten Blick eine Einsicht in eine Welt, die bislang im Verborgenen lag.
Denn nicht nur Netflix, sondern fast alle Streamingdienste, von Apple über Amazon bis Disney+, machen meist ein großes Geheimnis um die Zuschauerzahlen ihrer Sendungen. Wer schaut was wie lang an? Was im linearen Fernsehen die Einschaltquoten sind, an denen man genau messen kann, wie erfolgreich das Wetten, dass ..?-Revival im Vergleich zu irgendeiner Schwarz-Weiß-Filmwiederholung in einem dritten Programm war, gibt es für die Streamingdienste nicht. Ihre Metriken sind für die Zuschauer kaum zu durchschauen. Zwar gibt es Firmen, die versuchen, den Erfolg von Netflix & Co. zu messen. Und ja, ab und an vermelden die Streamingdienste auch selbst Zahlen (natürlich fast nur positive). Aber was davon stimmt und in welches Verhältnis man diese Zahlen setzen muss und welche Erkenntnisse man daraus ziehen kann, bleibt geheim.
Die Initiative ist der bislang größte Einblick, den Netflix in seine Daten gibt. Eine Blackbox bleibt die Firma trotzdem
Insofern ist Netflix' weltweite Top-Ten-Initiative der bislang größte Einblick, den der Streamingdienst in seine Daten gibt. Zumal Netflix zeitgleich auch das Messinstrumentarium verändert. Bislang war das Maß des Erfolgs die Menge aller Netflix-Accounts, die sich eine Sendung mindestens zwei Minuten angesehen haben. Weshalb Netflix-Verschwörungstheoretiker schon länger unken, dass Serien-Hypes wie Bridgerton oder Squid Game in Wahrheit gar nicht so erfolgreich sind, wie Netflix behauptet. Weil ganz viele Menschen vielleicht nur neugierig waren, kurz reingeschaut haben - und nach zwei Minuten und einer Sekunde wieder entnervt abschalteten. Nach der alten Metrik hätten sie mit diesem Nutzerverhalten trotzdem zum Erfolg beigetragen.
Ab sofort will Netflix stattdessen alle Stunden, die eine Serie oder ein Film insgesamt angeschaut wurden, zusammenzählen, wie unter anderem Variety berichtet. So kann das Unternehmen, das aktuell mehr als 213 Millionen Abonnenten hat, so viele wie kein anderer Streamingdienst, dann neue beeindruckende Zahlen verkünden. Zum Beispiel, dass die koreanische Hitserie Squid Game allein im ersten Monat nach Veröffentlichung über anderthalb Milliarden Stunden angeschaut wurde.
Allein, wenn man sich die Neuerungen etwas genauer anschaut, ist die Transparenz-Initiative eigentlich eher eine Luftnummer. Denn transparent wird die Blackbox Netflix dadurch nicht. Top-Ten-Listen dienen, egal wie sie errechnet werden, im Internet vor allem dazu, erfolgreiche Produktionen noch erfolgreicher zu machen. Sie sollen dem Durchschnittszuschauer keine Branchenanalyse liefern, sondern ihn zum Weiterklicken animieren, nach dem Motto: Wenn so viele Leute Squid Game toll finden, ist das doch auch was für mich. So erklärt es auch Pablo Perez De Rosso in einem Blog-Post. Der Mann ist bei Netflix Vice President of Content Strategy, Planning and Analysis und schreibt, die Listen sollen "Fans helfen, neue Geschichten zu entdecken".
Warum eine Lieblingssendung abgesetzt wird, erfährt man nicht. Das kann frustrierend sein
Das ist natürlich auch in Ordnung, denn Netflix' Geschäftsmodell verpflichtet die Firma in keinster Weise, alle Zahlen zu veröffentlichen. Sie muss keine Werbung verkaufen und kann selbst entscheiden, was sie publik macht und nach welcher Logik sie eine Sendung fortsetzt oder nicht.
Für Zuschauer, die abgesetzte Lieblingssendungen gerne als persönliche Beleidigung auffassen, kann das natürlich frustrierend sein. Hatte die Lieblingsserie zu wenig Zuschauer? War sie zu teuer? Hat der Hauptdarsteller mit der Frau des Netflix-Chefs geschlafen? Man erfährt es nicht.
Es hat ja auch jeder Streamingdienst andere Gründe, warum er überhaupt Filme und Serien produziert. Netflix macht das, weil es viel unkomplizierter und günstiger ist, Sendungen selbst zu produzieren, als sie einzukaufen und die Nutzungsrechte für Dutzende Länder einzeln zu verhandeln und sie auch immer nur begrenzt zu besitzen. Amazon macht das, weil der Konzern mit Filminhalten neue Prime-Kunden gewinnen will, um mehr Bücher, Elektroschrott und Klopapier verkaufen zu können.
Deshalb zählt bei einer Produktion im Streamingzeitalter auch nicht unbedingt, wie viele Leute sie sehen wollten, um sie als Erfolg verbuchen zu können. Der Netflix-Film The Irishman wurde, nach allem was bekannt ist, lange nicht so oft gesehen wie andere Netflix-Produktionen. Aber da er von Martin Scorsese gedreht wurde, mit Robert De Niro und Al Pacino in den Hauptrollen, wurde so viel über ihn berichtet, dass man ihn einfach unter Werbekosten verbuchen könnte, weil er die Firma im Gespräch hielt. Erfolg wird bei Netflix also weiterhin keine mit neutralen Zahlen belegbare Kategorie sein, sondern eine interne Angelegenheit, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit definiert wird. Während die Zuschauer bitteschön anklicken sollen, was sowieso schon angeklickt wird.
Ach so, und bevor wir es vergessen: Die erfolgreichste Netflix-Serie in El Salvador ist gerade übrigens die alte kolumbianische Soap Yo soy Betty, la fea.