Süddeutsche Zeitung

Netflix-Serie:Waldmenschen gegen Faschisten gegen Türsteher

Die Netflix-Serie "Tribes of Europa" erzählt von einem untergegangenen Kontinent. Aber kann so ein Mammutprojekt aus Deutschland funktionieren?

Von Nicolas Freund

Populisten auf der Zielgeraden: Europa und die EU sind abgeschafft. Jahrzehnte nach einer ungeklärten Katastrophe macht jeder auf dem Kontinent, worauf er Bock hat. Die Nationalstaaten wurden durch Stämme, die sogenannten Tribes, ersetzt. Jeder Tribe hat seine eigene Kultur, Sprache und Geschichte: Die deutschsprachigen Origines leben, wie es sich für echte Deutsche gehört, naturverbunden im Wald, die Crimsons sind nette Faschisten, die Crows beherrschen das ehemalige Berlin, sind brutal wie genervte Türsteher und sehen aus, als hätte die Katastrophe sie beim Fetisch-Abend im Berghain erwischt. Viele dieser Stämme verbringen den größten Teil ihrer postapokalyptischen Zeit damit, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Die deutsche Netflix-Serie Tribes of Europa ist also eine Art zu Ende gedachte Identitätspolitik.

Durch den Absturz eines futuristischen Flugzeugs wird die Naturidylle der Origines jäh gestört und die Wald-Geschwister Liv, Kiano und Elja bergen einen geheimnisvollen Würfel aus dem Wrack. Keine gute Idee, die drei werden getrennt und haben bald alle Stammeskrieger Europas gegen sich. Kiano wird bei den immer schlechtgelaunten Crows als Toyboy eingesetzt, Elja reist mit Moses, einem futuristischen Papageno, durch die Pampa und muss viele Witze ertragen, denn Oliver Masucci gibt in der Rolle fast etwas zu viel. Die ernste Liv schließt sich derweil den militärischen Crimsons an und wie beim großen Vorbild Game of Thrones teilt sich die Erzählung fortan in voneinander unabhängige Handlungsstränge, die aber in weiten Pinselstrichen ein großes Ganzes zeichnen.

Und dieses Ganze funktioniert, obwohl einige Dialoge holpern wie der Truck, in dem Moses und Elja unterwegs sind, und obwohl man an manchen Effekten merkt, dass wohl nicht alles so umgesetzt werden konnte wie geplant. Es spricht aber sehr für die Grundidee, dass "Tribes" einen irren Sog entwickelt, der nicht am stärksten ist, wenn die Serie es mit Ironie versucht, sondern wenn sie sich ernst nimmt. Das liegt besonders an Henriette Confurius, die Liv spielt und das mit einer Glaubwürdigkeit, dass man ihr als Zuschauer überallhin folgen würde. Sogar in ein futuristisches, untergegangenes Europa.

Man merkt in jeder Szene, dass die Serie ein Herzensprojekt der Macher ist, allen voran Erfinder, Drehbuchautor und Regisseur Philip Koch. Alles ist voller Details und Verweise, die sich teilweise erst später erschließen. Star Wars, The Walking Dead, die Fallout-Computerspiele werden zitiert, die Serie feiert das Science-Fiction-Genre. Denn das größte Verdienst dieses ambitionierten Projekts ist der Weckruf für die deutsche Filmbranche, auch mal über den Vorabend-Tellerrand zu schauen, nicht alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu bringen, sondern etwas zu wagen. Tribes of Europa macht nicht alles richtig, aber die Serie wagt etwas, das dem deutschen Film oft fehlt: groß denken.

Tribes of Europa, sechs Folgen, bei Netflix

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