Die alte Frau zögert, dann dreht sie den Türknauf. Sie hat da so ein Gefühl. Ihr Enkel ist erst vom College und dann aus der Armee geflogen, nun lebt er hier bei ihr. Nie trifft er sich mit Mädchen. Immer wirkt er so düster und abwesend. Gerade ist er nicht da. Im Bett in seinem Zimmer, verborgen unter der Decke, scheint jemand zu liegen. Die alte Frau schlägt die Decke zurück - eine Kaufhauspuppe. Ein männlicher Torso, unbekleidet, perfekte Bauchmuskeln, keine Geschlechtsteile, keine Beine. Die Puppe werden die Zuschauer der Netflix-Serie Dahmer erst später, bei einer Wiederholung der Szene, zu sehen bekommen. Beim ersten Mal schneidet die Serie zu einem anderen Körper in einem anderen Bett: dem eines schwarzen jungen Mannes in einer Blutlache.
Es ist der Blick des Mörders, den die filmische Inszenierung hier einnimmt. Sie stellt eine Verbindung her zwischen dem harten Kern, der gewissermaßen von Fleisch und Blut gereinigten Idee eines Körpers und einem echten Körper, aus dem schon das Blut austritt, an dem das Fleisch aber dran ist. Noch, denn die Werkzeuge zur Zerstückelung liegen schon bereit.
Der vollständige Titel der Serie lautet Dahmer - Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer. Es geht also, wie durch die Doppelung wirklich jeder versteht, um jenen Mann, der in den Jahren 1978 bis 1991 insgesamt 17 Morde beging, meist an schwarzen, schwulen jungen Männern. Einige seiner Opfer aß er anschließend. Die Fernsehkameras waren damals dabei, als Männer in weißen Plastikanzügen die Säuretonne aus der Wohnung trugen, in der er die Überreste auflöste, den großen Kochtopf, die Sägen. Der Suchbegriff "Dahmer" in der Filmdatenbank IMDb ergibt eine Liste, durch die man erst mal scrollen muss. Jeffrey Dahmer war ein Massenmörder-Promi, so zynisch muss man das wohl sagen.
Und auch Netflix stellt noch mal eine große Bühne auf: Auf die Serie folgt im Oktober die True-Crime-Dokuserie "Conversations with a Killer: The Jeffrey Dahmer Tapes".
Ein bisschen Exploitation schwarzer Körper, ein bisschen Empowerment. Reicht das?
Das ist, heute mehr noch als damals, eine brisante Antwort auf eine politische Frage. Say their names, lautet der zeitgenössische Imperativ: Zeigt die Opfer. Erzählt ihre Geschichten. Nicht die der Täter. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Netflix keine Werbung dafür gemacht hat, es gab keine Sichtungsmöglichkeiten für die Presse vorab, keine Interviews.
Eine der Folgen beginnt mit einer Opfergeschichte, mit der Geburt eines schwarzen Kindes, das später zu einem von Dahmers Opfern werden wird. Der Opfergang zum Schlachter beginnt gleichsam mit dem ersten Atemzug. Ist das nun würdiger, als nur Dahmers Wahnsinn zu sezieren?
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Die Serie betreibt geschickt das Spiel, die Schnapsfüllung aus hässlichem Voyeurismus mit einem Schokomantel gesellschaftlicher Analyse zu umhüllen. In der zweiten Hälfte erzählt sie von der Rolle der Polizei, die sich zunächst nicht dazu bequemen konnte, den Morden halbwegs engagiert nachzugehen, von den schwarzen Nachbarn, deren Hinweise die Behörden ignorierten. Ein bisschen Exploitation schwarzer Leiber also, ein bisschen schwarzes Empowerment. Für jeden was dabei. Dazu gutes Schauspiel: Evan Peters Blick, in der Rolle des jungen Jeffrey Dahmer, kriecht einem kalt unter die Haut, um im nächsten Moment zu dem eines ausgesetzten Welpen zu werden.
Angehörige der echten Opfer meldeten sich nach dem Serienstart zu Wort, sie empfanden die Inszenierung als retraumatisierend. Nun aber gründet der gewaltige Erfolg von True Crime, der Erzählung wahrer Verbrechen, immer darauf, echten Psychopathen mit Schlagbohrern ins Schlafzimmer zu folgen. Dahmer steht aktuell an der Spitze der deutschen Netflix-Charts.
"Dahmer - Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer", 10 Folgen, Netflix.