Netflix:Netflix setzt auf Nostalgie - und hat Erfolg damit

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Als hätte Steven Spielberg ein Buch von Stephen King verfilmt und John Carpenter den Soundtrack dazu geschrieben: So fühlt sich Stranger Things in etwa an.

(Foto: Curtis Baker/Netflix)

"Stranger Things" spielt im Jahr 1983 und ist gerade dabei, zum größten Serien-Hit des Jahres zu werden.

Von David Pfeifer

Die guten alten Zeiten scheinen im immer gleichen Abstand hinter denjenigen herzuschleichen, die sie erlebt haben. Ganz allgemein gelten die Achtzigerjahre in der Popkultur als schreckliche Ära: Breite Schulterpolster ruinierten TV-Serien, Saxofon-Soli verwüsteten große Teile der Popmusik - und dass etwas "achtzigerjahremäßig" sei, hält sich bis heute als Schmähung. Wer also sollte sich für eine Serie begeistern, die im Jahr 1983 spielt und mit all dem überfrachtet ist, was diese Zeit auch formalästhetisch ungenießbar macht? Vielleicht einige wenige Nostalgiker?

Eher ungewöhnlich also, dass sich ausgerechnet die Serie Stranger Things, die in jeder Einstellung diese Zeit emuliert, zu einem Riesenhit des Streaming-Portals Netflix entwickelt. Netflix gibt keine genauen Zuschauerzahlen an, aber das Branchenblatt Variety hat herausgefunden, dass es der dritterfolgreichste Serienstart für Netflix in diesem Jahr war und 14,07 Millionen Amerikaner zwischen 18 und 49 die Serie in den ersten 35 Tagen angesehen haben. Mehr Publikum haben nur zwei schon vorher bekannte Formate erreicht - Fuller House war ein Remake, und von Orange Is The New Black lief bereits die dritte Staffel. Vor Kurzem wurde die Produktion einer zweiten Staffel bekannt gegeben, die im Jahr 1984 spielen wird.

Niemand wischt über Bildschirme. Das Analoge ist hier ein Spannungselement

Die Hauptfiguren in Stranger Things sind Kinder und Jugendliche, die in einer fiktiven US-Kleinstadt namens Hawkins leben. Einer dieser Jungen, Will Byers, verschwindet, seine Freunde beschließen, ihn zu suchen. Mysteriöse Dinge ereignen sich, ein paranormal begabtes Mädchen taucht auf, ein Monster muss bekämpft werden, und bald wird klar, dass Will in einem düsteren Paralleluniversum gefangen ist, das der echten Welt zwar gleicht, aber nur durch seltsame Passagen mit ihr verbunden ist. Will kann auf sich aufmerksam machen, indem er Lampen in der Gegenwelt zum Leuchten bringt.

Was sich wie ein Kindermärchen liest, wird in Haruki-Murakami-hafter Unheimlichkeit inszeniert. Schon nach der ersten Folge hält man jede Grausamkeit für möglich, auch wenn die Konfliktlinien immer sichtbar bleiben. Die Bösen sind an ihren dunklen Anzügen zu erkennen, die Guten daran, dass sie den Kindern glauben - und unter den Jugendlichen geht es natürlich nicht nur um Angst und Schrecken, sondern auch um Liebe und Freundschaft. Das große Ganze, erzählt im Kleinen.

Im Grunde hat man beim Sehen durchgehend das Gefühl, als hätte Steven Spielberg ein Buch von Stephen King verfilmt und John Carpenter den Soundtrack dazu geschrieben. Der bemerkenswerte Effekt, den Stranger Things erzielt: Obwohl die Serie einem eine Gänsehaut verschafft, auf der man Parmesan reiben könnte, hüllt sie ihr Publikum gleichzeitig in den warmen Mantel der Nostalgie. Horror und Heimeligkeit verstärken sich gegenseitig.

Für die Jahrgänge zwischen 1965 und 1975 dürfte das daran liegen, dass jedes Lied, jedes Kleidungsstück, alle Zitate und gezeigten Produkte ihnen unheimlich vertraut erscheinen. Die Jugendlichen in Hawkins fahren Bonanza- oder BMX-Räder, sie spielen das Rollenspiel "Dungeons & Dragons" und verständigen sich nachts unter der Bettdecke heimlich mit Funkgeräten. Jede Szene steckt voller Referenzen, sodass man als popkulturell interessierter Mensch kaum noch nachkommt, sich zu erinnern: an E. T. (die Fahrräder), Stand By Me (das Kinder-Abenteuer), Die unglaubliche Begegnung der dritten Art (die Kommunikation per Lichtquellen), dazu Grusel-Trash wie Firestarter (junges Mädchen vollbringt nach Laborversuchen Übernatürliches), Poltergeist, Twin Peaks, Operation Brainstorm - um nur einige zu nennen. Wenn in Hawkins ein Radio läuft, dann spielt es "Sunglasses At Night" von Corey Hart oder "Should I Stay Or Should I Go" von The Clash. Und die Serien-Kinder ziehen fortwährend Vergleiche zu einem Erzähluniversum, das sie 1983 gerade erst kennen gelernt haben, das sich aber bis heute halten konnte: Star Wars. Auch das Fortschrittseuphorische dieser Zeit wird beschworen: In der Popmusik wurden immer üppigere Synthesizer-Harmonien aus den neuen Keyboards gequetscht. Im Kino waren die Kinder gebannt von Science-Fiction-Märchen, während sich die Erwachsenen in Alien oder Blade Runner gruselten.

Hier zeigt sich eine Besonderheit dieser Ära: Die Achtzigerjahre waren auch die Gründerjahre des Blockbuster-Entertainments. Videotheken breiteten sich aus und sorgten dafür, dass man sich neben Pornografie auch B-Movies ohne größeren Gesichtsverlust nach Hause holen konnte. Computerspiele eroberten die Spielhallen und die Haushalte, Der weiße Hai und eben Krieg der Sterne bereiteten den Weg für die Merchandise-Kinder-Konsumwelt der Gegenwart. Weswegen viele Figuren der Popkultur, die heute als Referenzgrößen gelten, aus genau diesem Jahrzehnt stammen - von Chewbacca bis zu Super Mario. Sie überspannen die Generationen.

In einer Welt ohne Internet, Handys und Google Maps

Nur so ist auch zu erklären, warum die Schöpfer von Stranger Things, die Zwillingsbrüder Matt und Ross Duffer, diese Welt so genau nachbilden konnten. Sie sind Jahrgang 1984. Als "Duffer Brothers" firmieren sie unter Buch und Regie und genau wie ihre jugendlichen Hauptdarsteller werden sie eine steile Hollywood-Karriere hinlegen. Die perfekt ausgesuchten Kinderdarsteller sind eine weitere Stärke der Serie. Die einzigen vorher bekannten Stars sind Winona Ryder und Matthew Modine - er wurde 1984 mit Birdy berühmt, sie 1988 mit Beetlejuice, danach erloschen beide Karrieren sanft. Auch sie also wirken als Botschafter einer vertrauten Vergangenheit, genau wie die alten Autos in ihrer vertrauten Formensprache.

Handlungstreibend ist diese ganze Achtzigerjahre-Nostalgie allerdings nicht: Keine äußeren Ereignisse dieser Zeit haben Einfluss auf den Verlauf der Serie. Die Jugendlichen in Stranger Things könnten ihre Abenteuer genauso gut 1996 oder 2016 bestehen. So wirkt der ganze Aufwand, der vor allem in der Ausstattung betrieben wird, als hätte man besonders schöne Beschläge und Patina auf einen Türrahmen gebracht, für eine Tür, die zu nichts führt.

Was allerdings die Handlung nicht beeinflusst, ist umso entscheidender für die Dramaturgie. Denn eine Besonderheit dieser Zeit ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, weil das Entscheidende fehlt: Informationstechnik. Stranger Things spielt gerade noch in einer Welt ohne Internet, Handys und Google Maps. Was einen ebenso simplen wie wichtigen Effekt erzielt: Das Sichtbare, also Inszenierbare, bleibt physisch nachvollziehbar.

Von Mitte der Neunzigerjahre an wurde die analoge zu einer digitalen Welt, jede Informationstechnik funktioniert seitdem über Binär-Codes, zerlegt also alles in Nullen und Einsen. Die Welt von heute scheint überdeutlich in Megapixeln vermessen zu sein. Bei Serien, die in der Jetztzeit spielen, sieht man häufig Menschen, die auf Bildschirme starren, über Displays wischen oder hochauflösende Beweise aus dem Internet gewinnen. Als Spannungselement sind Bildschirme allerdings wenig ergiebig. Niemand muss noch in ein Archiv fahren, um die Vergangenheit eines Bösewichts aus alten Zeitungsausschnitten zu rekonstruieren. Es fehlt der Zauber eines Fotoabzugs, der erst im Entwicklerbad ein Geheimnis preisgibt. In Stranger Things wird das Analoge zum Spannungselement, ob in grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen man vielleicht, vielleicht aber auch nicht, ein Monster erkennt. Oder im Frequenzrauschen der Funkgeräte, die eine Interferenz oder vielleicht auch ein Wimmern übertragen können.

Dieses unbedingt Analoge ist auch in der zweiten aktuellen Netflix-Erfolgsserie The Get Down das größte erzählerische Pfund, neben den ebenfalls jugendlichen Darstellern. The Get Down erzählt von der Gründerzeit dessen, was heute als Hip-Hop zum Blockbuster-Entertainment gehört. Die Serie beginnt 1976, die Musik kommt noch nicht aus dem Computer, sondern muss physisch erarbeitet werden, auch wenn das Sampeln und Loopen bereits die kommenden 30 Jahre Popmusik vorzeichnet. Nur ist der Vorgang hier sicht-, also auch herzeigbar.

Die heute 50-Jährigen erleben, dass ihre Jugend im Rückblick keine Zeitverschwendung war

Die Serie funktioniert einerseits als Telekolleg-Beitrag zur Popkultur, Folge: Rap und Hip-Hop. Andererseits schafft sie eine ähnliche Nostalgie wie Stranger Things. Die heute 50-Jährigen erleben in beiden Serien, wie ihre eigene Jugend rückwirkend zu mehr als Zeitverschwendung hochkuratiert wird und können ihren jüngeren Wiedergängern dabei zusehen, wie sie eine Welt erkunden, die heute zum popkulturellen Allgemeingut gehört. Weswegen sie auch für die jüngeren Zuschauer als Referenzrahmen funktioniert. Ähnlich funktioniert es bei Amazon-Serien wie der Pilotfolge zu Jean-Claude Van Johnson, in der Jean-Claude Van Damme seine eigenen Filme aus den Achtzigern parodiert, oder in der Tennisklub-Coming-of-Age-Geschichte Red Oaks, produziert von Steven Soderbergh.

Die Fortschrittseuphorie von damals schließt alle ein, weil in beiden Netflix-Serien eine Begeisterung für das Mögliche mitschwingt, dieses Nicht-erwarten-Können der näheren Zukunft, in der Autos fliegen können, oder man wenigstens endlich all die Horrorfilme sehen und die Partys besuchen darf, die nur den Älteren erlaubt sind. Womöglich waren die Jugendlichen dieser Zeit, die heute zwischen 40- und 50-Jährigen, die letzte Generation, die noch darauf hoffte, besser leben zu können als die eigenen Eltern. Die Beliebtheit von Stranger Things und The Get Down liegt in ihrem Kultureskapismus begründet: Sie sind Zeitreisen in eine Vergangenheit, in der die Zukunft eine bessere zu sein schien.

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