Empfehlungssystem:Der Netflix-Algorithmus macht Kunst berechenbar

'House of Cards' ab 2. 11.  bei Sky

Die US-Politserie "House of Cards" mit Robin Wright (im Bild) wurde 2013 mit einem dezidiert algorithmischen Kalkül lanciert.

(Foto: Sky Deutschland/obs)
  • Bei jedem Film, den ein Netflix-Abonnent schaut, werden Dutzende Variablen gemessen - etwa Verweildauer, letzter Zugriff oder gesehene Filme.
  • Aus dem Sehverhalten kann Netflix ableiten, welche Serien ein wirtschaftlicher Erfolg sind und welche eher floppen.
  • Solche algorithmischen Empfehlungssysteme korrumpieren die Nutzer, weil sie nur noch zeigen, was erwartbar und gefällig ist.

Von Adrian Lobe

Dem Zufall wird im Internet nichts überlassen. Netflix schlägt dem Nutzer Serien vor, die ihm gefallen könnten. Facebook legt ihm Seiten nahe, Amazon Ware, Google Orte und Tinder Partner. Während man sich in Buchhandlungen treiben lassen und auch in Abteilungen stöbern kann, die einen eigentlich gar nicht interessieren, während man beim Zappen durchs Fernsehprogramm oder beim Blättern durch Tageszeitungen und Zeitschriften auf unerwartet Reizvolles stößt, konfrontiert einen der Algorithmus mit immer spezifischeren Empfehlungen. Der Nutzer als berechnetes und berechenbares Wesen ist in seinem Verhalten ziemlich durchschaubar.

Das Bewertungs- und Empfehlungssystem von Netflix zeigt dem Zuschauer eine Prozentzahl an, mit der eine Serie den Sehgewohnheiten beziehungsweise den von dem Streamingdienst ermittelten persönlichen Präferenzen entspricht. Unter einer Serie steht da etwa in grüner Schrift: "98 Prozent Übereinstimmung." Mehr als 80 Prozent der Serien auf Netflix werden über dieses Empfehlungssystem "entdeckt". Klicks, Likes, Shares. Und das Mediennutzungsverhalten lässt sich auch immer detaillierter aufschlüsseln.

Natürlich kann man sagen: Ist doch prima, wenn algorithmische Empfehlungssysteme einen Film vorschlagen. Dann muss man nicht die Mediathek nach einem passenden Film durchforsten. Der Deal lautet: Unterhaltungsfutter gegen Datenfutter. Und am Ende werden alle satt?

So einfach ist es nicht. Kann ja sein, dass der Algorithmus ein dem Zuschauer bisher verborgenes Interesse zutage fördert, auf das man selber nie gekommen wäre. Doch durch die Berechnungen und Prognosen des Gefallens wird eine Variable eliminiert, die für den Kultur- und Wissenschaftsbetrieb elementar ist: der Zufall.

Netflix führt nach einem Bericht des Technikmagazins Wired jährlich 250 A/B-Tests bei seinen Nutzern durch, um herauszufinden, wie die Nutzer auf Veränderungen des Programms reagieren. Bei einem solchen A/B-Test, wie er häufig im Online-Marketing durchgeführt wird, sehen Nutzer zwei unterschiedliche Varianten einer Webseite. Der Besucherstrom wird dabei automatisch in zwei Gruppen aufgeteilt: 100 000 Nutzer werden zufällig für den Test ausgewählt, weitere 100 000 für die Kontrollgruppe. Im Durchschnitt, haben die Datenwissenschaftler von Netflix herausgefunden, sondiert ein Nutzer 40 bis 50 Titel, bevor er eine Serie anschaut. Wenn eine Version mehr Leute zum Schauen bringt, wird dieses Design im Streaming-Dienst implementiert. Schon kleine Bildveränderungen können die Views dort um 20 oder 30 Prozent steigern.

Viele Erfindungen sind dem Zufall zu verdanken: Teflon, Penicillin, Fotografie. Alles ungeplant

Auf dem Netflix-Technology-Blog auf Medium heißt es: "Indem wir einen empirischen Ansatz verfolgen, stellen wir sicher, dass Produktveränderungen nicht von den meinungs- und lautstärksten Netflix-Mitarbeitern beeinflusst sind, sondern datengetrieben, was unseren Mitgliedern erlaubt, uns zu Erfahrungen zu führen, die sie lieben." Im Grunde sind Netflix-Abonnenten zahlende Probanden einer ständigen Marktforschung. Bei jedem Film werden Dutzende Variablen gemessen: Verweildauer, letzter Zugriff, gesehene Filme. Die "Netflix Quantum Theory" zerlegt jeden Film in seine mathematischen Einzelteile. Todd Yellin, Produktmanager und exzentrischer Mastermind bei Netflix, sagte einmal, sein Ziel sei es, "den Content niederzureißen". Das zeigt das Denken dahinter: Es geht nicht mehr um Inhalte, sondern um Formeln. Aus dem Sehverhalten kann Netflix ableiten, welche Serien ein wirtschaftlicher Erfolg sind - und welche eher floppen. House of Cards wurde 2013 mit einem dezidiert algorithmischen Kalkül lanciert: Es gab eine statistische Evidenz, dass sich der Erfolg der vorausgegangenen BBC-Serie mit Kevin Spacey wiederholen ließe.

Der Kultur- und Medienwissenschaftler Ed Finn stellt in seinem Buch "What Algorithms Want: Imagination in the Age of Computing" die These auf, dass Algorithmen Kulturmaschinen seien in dem Sinne, dass sie kulturelle Objekte, Prozesse und Erfahrungen generieren: "Netflix präsentiert eine nahtlose computerisierte Fassade, weil wir an einem Punkt angelangt sind, wo wir den Vorschlägen einer sonderbaren Maschine mehr als einem Fremden trauen." Netflix müsse man als Serie von Algorithmen, Schnittstellen und Diskursen lesen.

Ein interessanter poststrukturalistischer Gedanke: Algorithmen, die als Werk der Programmierer kulturelle Artefakte sind, produzieren immer dieselben erwartbaren Ergebnisse, über die das Publikum spricht. Und das Feedback liefert wiederum den Anstoß für neue Produktionen. Ein selbstreferenzielles System. House of Cards, schreibt Finn, stehe für einen der "verführerischsten Mythen des algorithmischen Zeitalters": "Das Ideal der Personalisierung, des maßgeschneiderten Contents, der für jeden von uns montiert wird."

Gewiss hat Netflix eine neue Fernsehkultur etabliert. Die Frage ist nur, was es für die Kulturproduktion bedeutet, wenn deterministische Algorithmen entscheiden, was beim Publikum gut ankommt. Was bedeutet es für die Ästhetik von Filmen? Werden künftig nur noch Serien produziert, die ein hohes "Engagement" versprechen? Wie viel Kultur steckt in einer datengetriebenen Kulturindustrie, wo Filmeschauen eben nicht nur Filmeschauen ist, sondern zugleich ein permanentes Marketing-Instrument? Wie mathematisierbar und berechenbar kann Kultur sein, deren Wert sich auch aus dem Unvorhersehbaren, Unberechenbaren und Ungefälligen speist? Stellt sich bei dieser Serialität am Ende nicht auch ein Ennui beim Zuschauer ein, weil nichts mehr überrascht?

Es gibt zuhauf Erzählungen von Kultur- und Medienschaffenden, deren kreative Ideen aus zufälligen Begegnungen resultieren. Ein Artikel, über den man bei der Zeitungslektüre im Café stolpert. Eine Persönlichkeit, die man ganz zufällig an einem öffentlichen Ort trifft. Der französische Schriftsteller Honoré de Balzac hat mal geschrieben, dass der Zufall "der größte Romancier der Welt" sei. Viele wissenschaftliche Erfindungen verdanken wir dem Zufall: Teflon, Penicillin, Fotografie. Alles ungeplant.

Serendipity nennt man im Englischen zufällige Beobachtungen von etwas nicht Gesuchtem. Allein, das Nichtsuchen ist in der digitalen Kultur nicht existent, abgesehen von ein paar Randomisierungstechniken wie Shuffle in der Musiktitelliste. Jede Suche muss an ein vorab definiertes Ziel führen. Durch automatisierte Systeme, welche Entwicklungen vom Ende her "denken", geht der Zufall und damit auch das kreative Element verloren. Es gibt im Digitalen kein Flanieren mehr, kein zufälliges Stehen- oder Hängenbleiben an einer Sache. Was wir lesen, sehen, hören, essen und fühlen, entscheiden und manipulieren immer häufiger Algorithmen.

Der US-Informationstheoretiker Christian Sandvig spricht von einer "korrupten Personalisierung": Mit Algorithmen, die vorgeben, unseren Interessen zu dienen, hätten wir ein System geschaffen, das vor allem kommerziellen Interessen dient, die im Widerspruch zu unseren eigenen stehen. Die algorithmischen Empfehlungssysteme ("Das könnte Sie auch interessieren") korrumpieren die Nutzer. Das, was der Computer als Ergebnis berechnet, wird zum Ausgangspunkt weiterer Suchen, und so entsteht eine Rückkopplungsschleife. Der Zuschauer ist bloß noch ein Datenpaket, das mit Serien, Filmen und News versorgt wird, die gefällig, erwartbar, affirmativ sein sollen. Mit modernem Hoftheater.

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