Da ist es also wieder, das Geraune von den "postfaktischen Zeiten". Wo Argumente und Fakten nichts mehr zählen. Wo Gefühle und ihre Manipulation alles überlagern. Selbst die Kanzlerin hat von diesem Schlagwort schon gehört, das sich in harmloseren Zeiten auch ein wortgewandter und angetrunkener Politikstudent auf einer Party ausgedacht haben könnte. Weil die Zeiten aber nicht harmlos sind, hat das Postfaktische längst auch das Fernsehen erreicht, Sonntagabend, 21:45 Uhr, Anne Will.
Es geht um Donald Trump, der ja unverändert Chancen auf das wichtigste politische Amt der Welt hat und an diesem Montagabend (2:45 Uhr deutscher Zeit) mit Hillary Clinton in die Manege des ersten TV-Duells steigt. Der Republikaner Trump gilt mit seinen unzähligen Lügen gewissermaßen als Anführer der postfaktischen Welt, deren Erklärung das ambitionierte Ziel der Sendung ist ("Emotionen statt Fakten - Warum ist Trump so erfolgreich?"). Es geht heiter los, klar, Showmaster und Malibu-Anwohner Thomas Gottschalk ist da.
Will: "Liefert Trump das bessere Entertainment als Clinton?"
Gottschalk: "Natürlich sehe ich psychologische Effekte, die ich als Entertainer kenne. In Deutschland wäre das, was gerade in den USA passiert, als würde man Dieter Bohlen fragen, ob er Nachfolger von Joachim Gauck werden möchte."
Das Publikum lacht, aber zum Glück relativiert die in Washington arbeitende Politikwissenschaftlerin Constanze Stelzenmüller Gottschalks Witzeleien bald. "Es ist zu spät und zu ernst, um sich über Trump als Entertainer zu unterhalten. Seine Wahl hätte gravierende politische Konsequenzen, auch für die Sicherheit in Europa." Stelzenmüller erinnert an Trumps "entwürdigende Entgleisungen" gegenüber Behinderten und Frauen, an seinen Hohn für die amerikanische Verfassung. Und sie fügt hinzu: "Was gerade in Amerika passiert, wird sich hier im Bundestagswahlkampf auch zeigen."
US-Wahl:Gerüchte in den USA: Bush senior will Clinton wählen
Der frühere US-Präsident wolle dem Kandidaten seiner Partei die Stimme verweigern, heißt es. George Bush ist ein besonders prominenter Republikaner, der Trump ablehnt - aber keineswegs der einzige.
Auch in dieser Talkshow hat das AfD-Gespenst Platz genommen
Spätestens an dieser Stelle ist klar: Auch in dieser Talkshow hat das AfD-Gespenst Platz genommen, das seit Monaten alle politischen Debatten durchschwebt. Denn auch in Deutschland ist das Postfaktische mancherorts salonfähig geworden - verkörpert durch die Tabubrüche der Höckes und Gaulands, in die Köpfe gepflanzt etwa durch gefälschte Kriminalitätsstatistiken über Flüchtlinge. Und so verweist SPD-Politiker Martin Schulz zu Recht darauf, dass das Trump-Phänomen auch in Europa existiere - etwa in Österreich oder Frankreich. Leider wird dieser Strang in der Sendung nicht weiter verfolgt, aber vielleicht würde das auch zu weit führen.
Immerhin entwickelt sich ein munteres Hin und Her, bei dem sich freilich vier der fünf Gäste in den groben Linien (Trump als Präsident? Besser nicht!) einig sind. Europaparlamentspräsident Schulz diagnostiziert bei vielen Menschen das Gefühl, von "denen da oben" nicht wahrgenommen zu werden. Linken-Politiker Oskar Lafontaine - der an Clinton auch nichts Gutes findet - verweist auf die Verirrungen des Kapitalismus und die Ängste vieler Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Alles richtig, alles nachvollziehbar, aber alles auch nicht neu.
Bleibt der fünfte Gast. Angekündigt als Trump-Unterstützer wird zügig klar: Der Amerikaner Roger Johnson ist so sehr auch nicht überzeugt vom Kandidaten Trump. Er wählt ihn, weil er Hillary Clinton noch schlimmer findet. Ansonsten liefert Johnson eher überschaubare Erkenntnisse à la "Für die Amerikaner spielen Emotionen eine große Rolle" oder "Trumps Anhänger fühlen sich auf jeden Fall abgehängt". Das Bonmot des Abends geht allerdings an den früheren Offizier der US Army: "Wir Amerikaner sind komische Tiere für die Europäer."
Das Problem der durchaus kurzweiligen Sendung: Für eine wirkliche Annäherung an die "postfaktischen Zeiten" wären ein paar ambitioniertere Fragestellungen gut gewesen. Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke und ihre Filterblasen, in denen jeder Unsinn reproduziert und jedes Weltbild gespiegelt wird?
Welche Rolle spielen Zeitungen und Rundfunkanstalten, denen die Menschen entweder nicht mehr vertrauen oder die von Objektivität nichts wissen wollen (Gottschalk deutet die Rolle von "Fox News" wenigstens kurz an)? Warum könnte es unklug sein, in Sendungstiteln die Beschreibung "Emotionen statt Fakten" mit dem Attribut "erfolgreich" und nicht mit "gefährlich" zu verbinden?
Vielleicht werden diese Fragen in Talkshow-Runden nach dem 8. November unter verschärften Vorzeichen besprochen. An diesem Tag findet die US-Präsidentschaftswahl statt. Dann wird sich zeigen, ob die bemerkenswerte Positionierung der New York Times von diesem Wochenende ("Trump ist der schlechteste Kandidat aller Zeiten") Einfluss hat.
Oder ob mit Donald Trump tatsächlich ein Gegner von Fakten und Zusammenhängen zum 45. US-Präsidenten gewählt wird. Wer nicht gerade mit der Lässigkeit Thomas Gottschalks gesegnet ist ("Faktencheck? Wollte ich auch nie!") muss befürchten, dass die "postfaktischen Zeiten" dann erst so richtig beginnen.