Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Ein Leben in Federn

Dass die "Sesamstraße" so erfolgreich wurde, hatte viel mit ihm zu tun: Zum Tod des "Big Bird"-Puppenspielers Caroll Spinney, dem ein einfältiger Vogel nie genug war.

Von Holger Gertz

Einmal, das ist jetzt auch schon wieder sieben Jahre her, konnte man mit dem leibhaftigen Caroll Spinney reden, ein großer Moment, auch weil das Gespräch stattfand am Broadway 1900, Lincoln Plaza, New York. Dort residiert die Sesamstraße, und wer als Kind damit aufgewachsen war, wollte natürlich unbedingt mal dahin, wo die Puppen wohnten. Caroll Spinney kam ein paar Minuten zu spät, er hatte noch die Weihnachtskarten vervielfältigen lassen, die er jedes Jahr zeichnete und auf denen, natürlich, Bibo zu sehen war, der große gelbe Vogel aus der Sesamstraße, Spinneys Lebenswesen. Big Bird nennen ihn die Amerikaner.

Der Puppenspieler Spinney steckte seit der ersten Sesamstraßen-Folge 1969 im Kostüm des Vogels. Spinney war eine Legende, und er war auch so ziemlich der freundlichste Mensch der Welt, und dass die Sesamstraße so erfolgreich wurde, hatte mit ihm zu tun. Jeden Morgen zog er zuerst die orange Hose mit den Vogelfüßen an, dann legte ihm ein Techniker einen Gurt mit Monitor und Mikro um. Dann stülpten sie ihm den Vogelkörper über, Spinney war jetzt Bibo, sein rechter Arm steckte im Kopf des Vogels, mit dem kleinen Finger bediente er einen Hebel, der die Augenlider bewegte, es war also ein enormer Aufwand, mit dem Bibo zum Leben erweckt wurde, aber im Fernsehen sah man das nie. Im Fernsehen war da der riesige Kanarienvogel, der nicht alles wusste und gegen tief sitzende Äste lief. Er hatte ein gewaltiges Nest, aber er war immer auch ein wenig allein. Genau wie die Kinder, die ihm zusahen. Eigentlich hätte Bibo ein dummer Vogel sein sollen, so hatte sich der Sesamstraßen-Erfinder Jim Henson das gedacht, aber Spinney war Einfalt nicht genug, er ließ Bibo so reden, wie ein vielleicht sechsjähriges Kind redet, da steckt ja immer schon etwas Alltagsphilosophie drin. Nie war Bibo aggressiv, immer blieb er neugierig, nie machte er jemandem Angst. Er konnte sich entwickeln.

Irgendwann hat ein Journalist in einem Text über die Sesamstraße geschrieben: "Und dann ist da noch dieser große, mitfühlende Vogel." Spinney konnte den Satz auswendig. "Der Journalist hatte erkannt, um was es mir ging. Irgendwie hatte das Mitgefühl sich ausgedrückt, durch Big Birds Charakter."

Einen mitfühlenden Vogel zu schaffen ist eine Lebensleistung. Spinney und Bibo gingen gemeinsam auf eine Reise, drehten Filme, kriegten Preise, begleiteten 46 Jahre lang Generationen von Kindern, waren Freunde, waren eins. A life in feathers. "Manchmal träume ich davon, fliegen zu können", erzählte Spinney. "Ich sause über den Köpfen der anderen herum, und keiner wundert sich darüber, dass ich es kann." Bis 2015 hat er den Vogel gespielt, vorübergehend wurde er (also Bibo) eine politische Figur, als der Präsidentschaftskandidat Mitt Romney 2012 drohte, Zuschüsse für den damaligen Sesamstraßen-Sender PBS zu streichen. Fans scharten sich um Bibo, der trat sogar bei Saturday Night Live auf und sagte mit Spinneys nasaler Stimme, das Theater sei ihm extrem unheimlich: "Bis vor Kurzem war ich doch noch ein ganz normaler zweieinhalb Meter großer Vogel, der sprechen kann."

Puppen sind unsterblich, Menschen nicht. Spinney erkrankte im Alter an einer Bewegungsstörung, aber erlebte noch das 50. Jubiläum der allerersten Sesamstraßen-Folge Anfang November. Am Sonntag ist der große Puppenspieler Caroll Spinney, 85, in Woodstock gestorben.

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Quelle:
SZ vom 10.12.2019
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