Süddeutsche Zeitung

Nachruf:Ein großer Träumer

Als Humanist in der Revolte war der Journalist Jean Daniel immer auch politischer Akteur. Nun ist der "Nouvel Observateur"-Gründer mit 99 Jahren gestorben.

Von Willi Winkler

In einer Abseite der Weltgeschichte leben die Träume. Im Herbst 1963 empfing John F. Kennedy im Weißen Haus Jean Daniel und betraute ihn mit einer ungewöhnlichen Mission: Ein Jahr nach der Kubakrise sollte der französische Journalist zum erzbösen Fidel Castro reisen und die Möglichkeit einer Wiederannäherung zwischen den USA und Kuba ausloten. Während er mit dem líder máximo auf der Terrasse saß, kam die Nachricht, dass Kennedy in Dallas einem Attentat zum Opfer gefallen war. Der Auftrag war damit erloschen, die beiden Länder blieben noch weitere fünfzig Jahre unversöhnlich verfeindet.

Es war kein Zufall, dass Kennedy sich den fast gleichaltrigen Journalisten als Unterhändler ausgesucht hatte. Daniel, 1920 in der Nähe von Algier in eine jüdische Familie geboren, stellte sich mit großer Leidenschaft zwischen die Fronten. Er unterstützte de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entließ, wehrte sich aber gegen dessen monarchische Neigungen. Er kämpfte für die Befreiung Algeriens, wollte aber die Rechte der dort angesiedelten Franzosen gewahrt wissen. Er war Jude, doch lag ihm nichts mehr am Herzen als die Aussöhnung mit den arabischen Nachbarn Israels.

Wegen seiner Artikel galt Daniel den Sicherheitsbehörden als "wandelnde Zeitbombe". Als Reporter für L'Express berichtete er aus dem Befreiungskrieg, den der FLN gegen Frankreich führte, und wurde dabei sogar verwundet. Da er in der Redaktion als einziger de Gaulles Kurs der Versöhnung vertrat, musste er sich neu orientieren. 1964, als Robert Silver die New York Review of Books gründete, startete Daniel in Paris mit Freunden den Nouvel Observateur. Ihm schwebte ein eher literarisches Organ mit bescheidener Auflage vor, doch entwickelte sich das Wochenmagazin nicht bloß zur stilistisch besten Zeitung Frankreichs, sondern zu einem einflussreichen Unternehmen, gegen das selbst für Pompidou und Mitterrand nur schwer zu regieren war. Die französische Linke entfernte sich sonst nur zögernd vom totalitären Anspruch - die einheimische KP war nach Daniels Worten die "stalinistischste" Partei außerhalb der Sowjetunion -, doch im Nouvel Obs wehte die Luft der Freiheit schon vor der Kehrtwende der "neuen Philosophen".

Hier wurde die europäische Idee propagiert, für Frieden im Nahen Osten argumentiert und die Gleichberechtigung der Frauen gefordert. Alice Schwarzers Aktion "Wir haben abgetrieben!" im Stern folgte dem Vorbild des französischen Magazins, in dem sich Simone de Beauvoir, Françoise Sagan und Agnès Varda dazu bekannt hatten.

Politisch wie literarisch blieb der Algerienfranzose Albert Camus Daniels Vorbild, denn er verstand sich als Humanist in der Revolte. Gerade deswegen suchten Politiker seinen Rat, den er gern auch in seiner Zeitschrift erteilte, für die er bis zuletzt seine Kolumne schrieb. "Ich hätte mir gewünscht", sagte er vor einigen Jahren im Gespräch mit der Süddeutschen, "dass Israel wie ein Pate die Palästinenser in die Uno führt." Ein Traum natürlich, erst recht heute, aber Jean Daniel konnte nicht nur schreiben, sondern auch träumen. Am Mittwoch ist er wenige Monate vor seinem hundertsten Geburtstag in Paris gestorben.

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SZ vom 21.02.2020
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