Nachruf auf US-Journalistin:Die Böse

Lillian Ross

New Yorker-Reporterin Lillian Ross.

(Foto: Time Life Pictures/Getty)

Mehr als 500 Texte hat Lillian Ross für den "New Yorker" geschrieben. Jetzt ist sie mit 99 Jahren gestorben.

Von Willi Winkler

Natürlich war sie die Böse. Sie hatte ein selbst in dieser verklatschten Stadt wohlgehütetes Geheimnis ausgeplaudert, aber schließlich war sie Reporterin, sie musste auch darüber schreiben, dass sie mit ihrem Vorgesetzten William Shawn, dem legendär stilprüden Chefredakteur des New Yorker, über Jahrzehnte ein inniges Verhältnis gepflogen hatte, jeden Mittag außerehelich vollzogen, während die Kollegen in der Redaktion um ein Semikolon rangen oder ein unangreifbares Adjektiv. Seit Lillian Ross () 1950 Ernest Hemingway bei seinem Landgang begleitet und ihn zwischen Champagner und Cézanne in seiner ganzen eitlen Brummbärigkeit geschildert hatte, fand er sich geschmeichelt, und sie war ein Star. Sie brauchte kein Tonband, sie schrieb auf, was sie hörte, sah und, ja, auch fühlte. Mit nur wenigen Fragen gewann sie das Vertrauen von Clint Eastwood bis Robin Williams. Wer einmal angefangen hat, kann nicht mehr aufhören: In 65 Jahren schrieb sie gut fünfhundert Stücke für den New Yorker, über einen jüdischen Stierkämpfer, über J. D. Salinger, über das von Joseph McCarthy belagerte Hollywood. Vorgestern ist die Tochter russischer Einwanderer im fast geheim gehaltenen Alter von 99 Jahren in New York gestorben.

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