Nachrichten:Im Winterschlaf

NORILSK RUSSIA FEBRUARY 18 2017 A woman walking past a snow covered shop Kirill Kukhmar TASS P

Wenn im russischen Norilsk der Kiosk hinter den Schneemassen verschwindet, kann das dem Printgeschäft in der ersten Januarhälfte nur wenig anhaben. In der Zeit erscheint kaum Frischgedrucktes.

(Foto: imago)

Keine Zeitungen am Kiosk, Stillstand auf den Portalen: In Russland frieren zum Jahresbeginn nicht nur die Flüsse ein, sondern auch der Nachrichtenstrom. Das wird inzwischen gern ausgenutzt.

Von Silke Bigalke und Frank Nienhuysen

Vor der U-Bahnstation Smolenskaja steht einer dieser typischen Straßenkioske. Ein Glaskasten, von innen zugehängt mit Illustrierten, hier gibt es die russische Elle, Kreuzworträtsel und das Fernsehprogramm. Neben der kleinen Durchreiche steht eine Herde bunter Glücksschweinchen fürs neue Jahr. Eine Auswahl glitzernder Schlüsselanhänger ist flächendeckend über die Scheibe geklebt, aber wo sind die Tageszeitungen an diesem Zeitungsstand? Sind der Kommersant da, oder die Nowaja Gaseta? "Nein", sagt die Verkäuferin, die hinter all dem Kram kaum zu sehen ist "am 9. Januar wieder."

In Russland frieren zum Jahreswechsel nicht nur die Flüsse ein, sondern auch der Nachrichtenstrom, jedenfalls der gedruckte. Am 28. Dezember wurden die letzten Printausgaben der Tageszeitungen produziert, seitdem ist es still. Die Atempause hat etwas Anachronistisches in Zeiten der sich überschlagenden News. Man kann das besonders lässig finden, aber auch besonders verschlafen, wenn sich die Zeitungen für anderthalb Wochen ausklinken aus der täglichen Informationskette und das Berichten einstellen, wenn das Land in eine Art kollektiven Neujahrsschlaf fällt.

Seit den Neunzigerjahren sind die zwei, drei Ferientage, die es noch zu Sowjetzeiten gegeben hatte, ausgedehnt worden auf üppige, beinahe zwei Wochen staatlicher Feiertage. Es ist die Zeit, in der die Russen sich auf die Datscha zurückziehen oder ins Ausland reisen. "Das Leben im Land friert dann ein", sagt Dmitrij Lowjagin, "Geschäftsleute fahren in den Urlaub, Politiker sind weg, es gibt kaum Gesprächspartner, niemand da, der in dieser Zeit mit Journalisten redet". Lowjagin ist stellvertretender Chefredakteur der russischen Tageszeitung RBK, eine der wichtigsten unabhängigen Wirtschaftszeitungen im Land. Er arbeitet seit etwa 20 Jahren als Journalist.

Die lange Neujahrspause blieb nicht immer folgenlos. Lowjagin erinnert sich, wie einst Russlands Präsident Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 überraschend seinen Rücktritt erklärte, dem damaligen jungen Ministerpräsidenten Wladimir Putin zu seinem Nachfolger machte, und die Zeitungen darüber nicht berichtet haben, ja nicht berichten konnten, und alles Mediale den Fernseh- und Radiosendern überließen. Im Dezember 2010 verschob ein Gericht die Urteilsverkündung gegen den Oligarchen und Regierungskritiker Michail Chodorkowskij um zwei Wochen unmittelbar vor den Beginn der russischen Neujahrszeit. Chodorkowskijs Verteidiger witterten darin einen perfiden Schachzug: Die Regierung wolle den Schuldspruch aussitzen, während die Bevölkerung sich um das Neujahrsfest kümmere, erklärten sie damals.

"Es ist nicht verboten, in der Anfangszeit des Jahres eine Zeitung zu produzieren", sagt Lowjagin, "aber die russische Leserschaft fällt dann rapide ab, es gibt für diese Phase keine Werbeeinnahmen, aber immens hohe Ausgaben." Papier ist in Russland verhältnismäßig teuer, "auch der Vertrieb kostet uns sehr viel", sagt der stellvertretende RBK-Chefredakteur. "Dass die gedruckten Zeitungen in der langen Ferienzeit nicht erscheinen, hat also rein wirtschaftliche Gründe. Die Zeiten für die gesamte Printbranche in Russland sind schwieriger geworden." Vergangenes Frühjahr hat das unabhängige russische Lewada-Zentrum 1600 Menschen befragt, wo sie sich am häufigsten über Russland und die Welt informierten, Mehrfachantworten möglich: 85 Prozent nannten das Fernsehen, 27 Prozent Online-Medien, nur 13 Prozent Tageszeitungen. Die Alten schauen Fernsehen, die Jungen gehens ins Internet. Ungefähr 80 000 Exemplare hoch ist die gedruckte Auflage von RBK noch. Die wichtigsten Nachrichten werden in der ersten Januarhälfte hauptsächlich über die Webausgabe verbreitet, nur das Wichtigste, knapp, kurz - ohne Einordnungen, kritische Analysen, ohne zusätzliche Hintergrundinformationen, die für die RBK-Redaktion zum Grundverständnis gehören. Mitunter machen die Mitarbeiter die wichtigsten Aktualisierungen von zu Hause aus. "Es müsste schon etwas extrem Außergewöhnliches passieren, damit die Journalisten in die Redaktion gerufen werden, um eine Sonderausgabe zu produzieren", sagt Lowjagin. Aber was das nun sein müsste, ein Terroranschlag etwa, oder der Tod eines berühmten Künstlers, der Rücktritt eines hohen Politikers? Lowjagin kann es nicht beantworten. Der Jelzin-Rücktritt war es bei den meisten russischen Zeitungen, wie etwa auch beim Kommersant, jedenfalls nicht. "Eine solche Entscheidung muss bei uns die Medienholding treffen", sagt er. Die Leser wundern sich jedenfalls nicht über diese für europäische Verhältnisse ungewöhnliche Erscheinungspause. Sie verzichten zum Jahreswechsel routiniert auf frische Presseerzeugnisse und informieren sich im Internet über das Wichtigste. Wenn überhaupt.

Angebliche Spione, eingestürzte Wohnblocks: News gäbe es genug

In der Woche nach Silvester haben in Moskau viele Banken, Cafés und Behörden geschlossen. Trotzdem ist die Stadt vielerorts voller Menschen in Feiertagsstimmung. Familien mit kleinen Kindern schieben sich im Schneckentempo über hoffnungslos überlaufene Weihnachtsmärkte. Nichts kann sie hetzen in diesen Tagen, die fehlenden Schlagzeilen helfen wohl dabei.

Die alten Ausgaben jedenfalls, die immer noch an einem der Bahnhofskioske ausliegen, suggerieren, dass seit mehr als einer Woche nichts Wichtiges mehr passiert sei im Land. Dabei ist in Magnitogorsk 1400 Kilometer östlich von Moskau an Silvester ein Wohnblock eingestürzt, mindestens 39 Menschen starben. Vermutet wird eine Gasexplosion, wie sie in alten, schlecht gewarteten Gebäuden in Russland immer wieder geschehen. Oder was ist mit dem Amerikaner, der in Moskau als angeblicher Spion festgenommen wurde? Und am Wochenende wurde die Unabhängigkeit der orthodoxen Kirche in der Ukraine offiziell - über Monate war das ein wichtiges Thema in Moskau.

Am Kiosk liegt eine Art Jahresrückblick in Rätseln, es ist die RBK-Ausgabe vom 28. Dezember. Wedomosti vom selben Tag hat die Personen des Jahres 2018 auf dem Titel, Angela Merkel ist ganz vorne mit dabei. Der Kommersant ist am dicksten: Er veröffentlicht in der letzten Ausgabe des Jahres eine Liste der Insolvenzen des Jahres, ein wirklich trister Anblick. Alle schauen zurück, niemand nach vorne. "Die gelten auch im Januar", sagt die Verkäuferin am Kiosk trotzdem selbstbewusst, wenn man sie nach dem Datum fragt. Naja, zumindest bis zum Ferienende.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: