Zum Beispiel diese Mail eines Lesers, neulich, im Sommer. Es komme ihm so vor, schrieb der Mann, als ob sich persönliche Wertungen einzelner Redakteurinnen und Redakteure zunehmend in Nachrichtenartikel einschlichen. „Dafür ist das Meinungsformat vorgesehen, nicht aber der Bericht.“
Der Leser schrieb aus München, es ging ihm darum, dass wir über eine Straße im Zentrum geschrieben hatten, dort sollten Radler „endlich“ mehr Platz bekommen. Keine große Sache. Aber darum geht’s nicht. Wichtig war der Erinnerungsruf als solcher: dass das Publikum der SZ auf kaum etwas so empfindlich reagiert wie auf die Vermischung von Nachricht und Meinung. Zu Recht.
Die kommt immer wieder mal vor, in allen Medien. Obwohl in den Journalistenschulen, praktisch an Tag eins, diese Trennung gelehrt wird. Obwohl es primär im Politikjournalismus gar keinen Dissens dazu gibt (von zwei Ausnahmen abgesehen: dem Boulevard, dem sie nie als Wert an sich galt, sowie jenen neuen Medien, deren Geschäft in der Aufwiegelung besteht). Manchmal kippt die Schilderung eines Ereignisses in eine Bewertung desselben; aber das ist eigentlich selten. Häufiger ist, dass man in einem nachrichtlichen oder analysierenden Text jäh über kommentierende Einsprengsel stolpert.
Dann heißt eine Organisation nicht rechts, sondern rechtslastig (was abwertend klingt). Dann heißt es über die nicht zustande gekommene Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf ans Bundesverfassungsgericht: „Der Schaden ist angerichtet“ – was kein Fakt, sondern dessen Bewertung ist. Und dann gibt es Kommentierungen, die womöglich gar nicht gewollt sind, sondern eher Unbeholfenheit verraten. Wer über „mutmaßlich“ illegale Einwanderer in den USA schreibt, beurkundet diese Etikettierung durch die Regierung Trump praktisch als zutreffend. Wer wiederum eine Donald Trump zugeschriebene Geburtstagszeichnung für den Sexualverbrecher Jeffrey Epstein mit dem Adjektiv „angeblich“ versieht, teilt im Subtext mit, dass an diesem Vorwurf gegen Trump eher nichts dran sei.
Die Entfernung zwischen Einordnung (Analyse) und Bewertung (Kommentar) beträgt manchmal nur sechs Buchstaben
Eine solche, vielleicht gar nicht unbedingt gewollte Vermischung von Nachricht und Kommentar passiert aus vielen Gründen. Manchmal geht einer Autorin das Temperament durch; eine Gefahr, die beim Thema Trump größer ist als bei der Senatsumbildung in Bremen. Manchmal soll ein Autor eine Analyse schreiben, weil die Nachricht als solche längst in der Welt ist und man mit deren Wiederholung die Leute nur langweilen würde. Doch Analyse und Kommentar sind nahe Verwandte. Die Entfernung zwischen Einordnung (Analyse) und Bewertung (Kommentar) beträgt manchmal nur sechs Buchstaben. Rechts und rechtslastig. Im Ideal-, wahrscheinlich sogar im Normalfall fällt die Vermischung von Nachricht und Kommentar denjenigen in der Redaktion auf, die einen Text anschließend redigieren, und sie fischen Formulierungen heraus, die darin nichts zu suchen haben.

Journalismusforschung:"Das ist ein Spiel, bei dem alle verlieren"
Wie links ist der Journalismus? Zu LMU-Professor Thomas Hanitzsch kommen Journalisten, wenn sie wissen wollen, was sie falsch machen. Im Gespräch erklärt er, wie sie sich ihr eigenes Grab schaufeln.
Wenn sie aber durchflutschen? Das ist nämlich in seriösen Redaktionen das passende Wort dafür. Also Panne. Nicht Vorsatz. Wie sie bei allen Tätigkeiten vorkommt, die von Menschen verrichtet werden. Im Journalismus hat dann jemand etwas übersehen. Oder nur Zeit für einen flüchtigen Blick gehabt, wegen Zeitdrucks. Oder die Stärke des Redigierers liegt leider nicht im Redigieren – so fehlt ihm die Courage für den beherzten Eingriff. Journalismus ist wie Leichtathletik: Nachricht, Bericht, Reportage, Glosse, Interview und Kommentar sind so unterschiedliche Disziplinen, wie es 100-Meter-Lauf, Kugelstoßen, Hoch- und Dreisprung sind. Der eine kann dies besser, die andere jenes. Natürlich gibt es Zehnkämpfer, die können alles. Nur: Keine Redaktion besteht allein aus Zehnkämpfern.
„Aber objektiv könnten Sie doch wenigstens sein!“ Noch solch ein Satz, den man vom Publikum regelmäßig hört. Oder: „Ich brauche Ihre Meinung nicht. Sie sollen objektiv berichten. Meine Meinung kann ich mir selbst bilden.“ Das ist eine Kritik, die einleuchtender klingt, als sie ist.
Viele Menschen haben das Bedürfnis, nicht nur Schilderungen, sondern auch Deutungen zu bekommen
Objektiv. Großes Wort. Man könnte philosophische Abhandlungen darüber schreiben. Wenn „objektiv“ bedeutet, dass bei Themenwahl und Herangehensweise keinerlei Prägungen, Vorkenntnisse, persönliche Vorlieben und tote Winkel, keine unterschwelligen Wünsche und Vorurteile eine Rolle spielen – wenn „objektiv“ dies bedeutet, so ist der Wunsch kaum zu erfüllen. Die Menschen, die Journalismus ausüben, werden ja nicht täglich frisch im Reinraum erzeugt. Objektivität kann daher nur heißen: Diese Menschen wissen um den menschlichen Faktor. Sie versuchen, die durch ihn hervorgerufenen Verzerrungen zu minimieren. Das ist unabdingbar im professionellen Journalismus. Alles andere käme dem Prinzip „Milz an Großhirn“ gleich.
„Ich brauche Ihre Meinung nicht“ – kommt dieser Vorwurf, ist eigentlich etwas anderes gemeint: Ich lehne Ihre Meinung ab. Nie beglückwünscht jemand eine Autorin zu ihrem Kommentar und fügt dann hinzu, so etwas brauche man nicht. Grundsätzliche Kritik vergisst zweierlei: erstens, dass viele Menschen das Bedürfnis haben, nicht nur Schilderungen, sondern auch Deutungen zu bekommen. Um sich zu sortieren, um sich bestätigt, um sich herausgefordert zu fühlen. Zweitens geht es, jedenfalls in der SZ, weniger um Meinung als solche. Es geht um Argumente. Eine Meinung taugt nur dann etwas, wenn die auf sie hinführenden Argumente nachvollziehbar und stringent sind, wenn die zugrundeliegenden Fakten stimmen. Alte Regel: Die Meinung ist frei, die Fakten sind heilig.
Das kann verwirrend sein, fürs Publikum. Heute wollen sie in der SZ den Taurus liefern, gestern nicht. Heute sind sie für Steuererhöhungen, gestern waren sie dagegen. Ist die SZ-Redaktion also eine Organisation, die nicht weiß, was sie inhaltlich will? Ja, ist sie. Eine Redaktion ist keine Fraktion. Eine Fraktion muss mit einer Stimme sprechen, um arbeitsfähig zu bleiben. Eine Redaktion will Diskurs ermöglichen und organisieren: heute diese Argumente von dem einen Kollegen, übermorgen dann die von der Kollegin. Im Deutschlandfunk gibt es täglich eine Presseschau, darin werden Kommentare aus Zeitungen vorgelesen. Zum Ende des Zitats heißt es dann oft: „.... meint die Süddeutsche Zeitung“.
Worauf die Süddeutsche Zeitung aber Wert legt: Dieser Satz muss immer falsch bleiben. Hier meinen immer nur einzelne Autorinnen und Autoren. Die SZ selbst hingegen meint nie etwas; in Kommentaren nicht, und in Berichten erst recht nicht.

