Nachlese zum ARD-Krimi:High vom Sterben

Tatort "Freitod"

Wissen, wie man einen Auftritt hinlegt: die religiösen Fanatiker um den Pro-Vita-Leiter Josef Thommen (Martin Rapold, Mitte).

(Foto: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler)

Ist das ein Krimi oder das Proseminar "Die ethischen Implikationen des begleiteten Freitods"? Nachlese zum Schweizer "Tatort".

Kolumne von Johanna Bruckner

Darum geht es:

Um Leben und Tod. Aber nicht im 0815-Krimi-Sinne, nein, in "Freitod" werden die beiden Pole der menschlichen Existenz philosophisch-religiös erörtert. Unter dem Großen und Ganzen machen es Tatort-Kommissare nur noch selten, die Schweizer Ermittler Liz Ritschard und Reto Flückiger sind da keine Ausnahme (siehe Tatorte zur Flüchtlichskrise und zu Selbstjustiz).

Die Geschichte beginnt in den Räumen der Sterbebegleitung "Transitus". Hier werden Zimmer und Bett für die letzten zehn Minuten des Lebens mit Liebe zum Detail hergerichtet. Doch ein Händchen fürs Dekor kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Geschäftsmodell streitbar ist. Der Leiter der pseudo-christlichen Organisation "Pro Vita" sorgt dafür, dass seine Gefolgschaft den Transitus-Leuten ordentlich die Hölle heiß macht (wenn die Floskel passt, dann hier). Eines Abends liegt die Mitbegründerin der Sterbeagentur, Helen Mathys, tot auf einem Kinderspielplatz. Sind die selbsternannten Lebensschützer verantwortlich? Oder hat ein trauernder Angehöriger Rache genommen?

Hier lesen Sie die Rezension von SZ-Tatort-Kritikerin Katharina Riehl:

Bezeichnender Dialog:

Kurz nach dem Mord von Helen Mathys will ihr Geschäftspartner Dr. Herrmann zum Alltagsgeschäft zurückkehren. Kommissar Flückiger redet ihm ins Gewissen.

Flückiger: Schon wieder eine Sterbebegleitung - muss das sein?

Dr. Herrmann: Krebs im letzten Stadium. Er ist schon auf dem Weg von Österreich hierher.

Kommissar Flückiger: Ja, aber warum grad morgen? Können Sie das nicht verschieben?

Dr. Herrmann: Und wie stellen Sie sich das vor? "Könnten Sie bitte ein anderes Mal sterben? Es passt jetzt gerade nicht."

Kommissar Flückiger: Ja, gut, wenn ich mir vorstelle, ich hätte mich mal entschieden ...

Dr. Herrmann: Sehen Sie.

Die besten Zuschauerkommentare:

Top:

Das Thema.

Flop:

Die Umsetzung. Über weite Strecken wirkt dieser Schweizer Tatort wie ein Proseminar an der Uni. Titel: "Die ethischen Implikationen des begleiteten Freitods". Exemplarisch werden die beiden Einstellungsextreme durchexerziert - inklusive klischeehafter Monologe. Da darf der Transitus-Chef Dr. Herrmann den deutschen Kritiker einer von Gott bestimmten menschlichen Existenz zitieren ("'Vom freien Tode' heißt es bei Nietzsche - 'wer das will, soll zur rechten Zeit ein edles Sterben wählen können'"). Und seinem Gegner Josef Thommen, Chef von Pro Vita, wurde ein Monolog über "Sterbetourismus" ins Drehbuch geschrieben ("Der eigene Wunschtod wird zum Produkt auf dem freien Markt - pervers").

Auch die sonstigen dramaturgischen Elemente funktionieren nach dem Motto: Achtung, Achtung - Konflikt! Um die moralische Aufladung auf 110 Prozent zu bringen, wohnt Tür an Tür mit der Sterbebegleitung Transitus ein junger Mann, der auf eine Spenderniere wartet. Da winkt nicht der Zaunpfahl, sondern ein Maibaum samt bunter Fähnchen.

Beste Szenen:

Sterben ist nicht gleich sterben. Das weiß jedes Kind, spätestens wenn es in der Schule an die Erkundung des Wortfeldes geht. Um den qualitativen Unterschied zwischen "einschlafen" und "verrecken" deutlich zu machen, reichen in diesem Tatort zwei Szenen. In der ersten gibt es frische Blumen, glattgezogene Bettlaken und einen medizinischen Strohhalm, durch den die alte, schwerkranke Dame das Gift einsaugen kann. Auf weiteren Sterbehilfekitsch verzichten die Macher glücklicherweise. Als die Tochter der sterbenden Mutter eine Wolldecke über die Beine legt, spricht die ihre letzten Worte: "Mir ist nicht kalt, Kind."

Ganz anders stirbt kurz darauf die Transitus-Mitbegründerin Helen Mathys. Über ihrem Gesicht spannt eine Tüte, mit jedem verzweifelten Atemzug saugt sie das dünne Plastik in den Mund, der Kopf geht hin und her, die Finger graben sich in den Dreck. Gerade einmal 20 Sekunden dauert diese Einstellung - danach weiß jeder Erwachsene, was mit dem Ausdruck "qualvoller Tod" gemeint ist.

Okayer Auftritt:

Kaum ein Dialog ohne moralische Wucht - man muss schon suchen, um vereinzelt feine Ironie zu finden. Gerichtsmedizinerin Corinna Haas (Fabienne Hadorn) gibt wie schon in vorherigen Folgen den humorigen Sidekick der Luzerner Ermittler. Als sie in den Räumen der Sterbebegleitung Transitus ein Bett untersuchen muss, das ein Unbekannter mit eimerweise ekligem Getier überschüttet hat, kommentiert sie trocken: "Solche Maden und Würmer kann man in jeder Zoohandlung bekommen. Lebendfutter - gibt's pro Kilo, zum Spottpreis." Das soll natürlich auch ein Beitrag zur Ach-Gottchen-wie-halt-ich's-denn-bloß-mit-dem-Sterben-Debatte sein - aber er ist zumindest unterhaltsam.

Die Erkenntnis:

Auch vom Sterben kann man high werden.

Schlusspointe:

Ohne zu viel vorwegzunehmen: Am Ende haben es die Kommissare Ritschard und Flückiger mit einer Mörderin aus der Kategorie "Todesengel" zu tun, die zu allem Überfluss noch durchknallt. Wie viele Opfer genau zu beklagen sind, wird nicht aufgelöst - aber eine lange Gefängnisstrafe scheint sicher. Was tut eine pharmazeutisch gut ausgestattete Psychokillerin in so einem Fall? Richtig, sie greift selbst zum Mordwerkzeug ihrer Wahl: dem Giftfläschchen. Blöd wird es allerdings, wenn das (durch eine nicht nachvollziehbare Wendung) nur noch Wasser enthält. Dann muss man wohl und eher übel weiterleben.

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