Süddeutsche Zeitung

Musikfernsehen:The Final Countdown

Einst galt MTV als stilprägend, heute ist die Marke praktisch irrelevant. Nach sieben Jahren im Bezahlfernsehen kehrt der Musiksender jetzt ins Free-TV zurück. Ob das hilft?

Von Hans Hoff

Der Sender MTV ist zurück. Zurück auf dem Weg ins frei empfangbare Fernsehen. Als MTV im Sommer ankündigte, aus dem Pay TV zurück ins Free TV zu ziehen, fielen die Reaktionen verhalten aus. Sie reichten von ungläubigem Staunen bis zur Frage, was das denn eigentlich sei, dieses MTV, das da sieben Jahre nach dem Umzug ins Bezahl-Abseits im Jahr 2011 zurück auf den freien Fernsehmarkt strebe. Spätestens da wurde deutlich, dass eine einst große Institution, die sich über die Jahre ihres Markenkerns fast vollständig entledigt hat, nun danach strebt, die Reste ihrer Reputation zusammenzukehren und aus ihnen einen neuen guten Ruf zu formen. Ob das gelingt, werden die Zuschauer feststellen, wenn MTV zurückkehrt.

Zum Comeback passt es, dass die Band U2 im November für den Sender ein Konzert auf dem Londoner Trafalgar Square gab. Am Vorabend der von MTV ausgerichteten European Music Awards wollte man offensichtlich die Breite des eigenen Leistungsspektrums demonstrieren. Auf der einen Seite agierte der ewig gleiche Schluckaufpop von DJ David Guetta, auf der anderen machten die Pathosrocker von U2 einen auf wichtig. Der eine zeigte, wo MTV jetzt steht, die anderen deuteten an, wo er herkommt. Schließlich startete die Karriere von U2 gerade richtig durch, als am 1. August 1981 ein neuer Sender in die Kabelhaushalte der USA schwappte.

Zu sehen war damals der Countdown eines Raketenstarts, und nach dem Lift-off sagte eine Stimme "Ladies And Gentleman, Rock'n'Roll." Ein lässig auf einem Schreibtisch hockender Lockenkopf versprach "Das Beste vom Fernsehen kombiniert mit dem Besten vom Radio", und dann folgte bald schon das erste Video auf dem Kanal, der sich als Music Television, kurz MTV, vorstellte. Die Buggles turnten wild über den Bildschirm und verkündeten die Zeitenwende. "Video Killed The Radio Star" hieß ihr Hit, der zeigte, dass es Zeit für eine Machtübernahme war.

Wo jahrzehntelang muffelige Radio- und Fernsehredakteure nach Kräften verhinderten hatten, dass dieser eklige Pop und der noch ein bisschen ekligere Rock zu oft den Weg an die Ohren der Jugend finden konnte, war auf einmal das volle Programm angesagt. Nicht mehr ewig warten müssen auf eine Jugendsendung hier und eine Liveshow dort, stattdessen Musik rund um die Uhr. Schluss mit Mangelverwaltung, auf einmal war Vollbedienung angesagt.

Obwohl zum Start nicht einmal eine Million Menschen am Kabel hingen, entwickelte sich MTV rasch zu einer weltweiten Marke, die stilbildend wirkte. Der Sender bot Spielfläche, was vor allem die Plattenindustrie erkannte, die das Programm bald mit aufwendig produzierten Musikfilmchen flutete. Die Art und Weise, wie diese Videos mit schnellen Schnitten und skurrilen Perspektiven die Songs beschrieben, prägte in der Folge nachhaltig das Fernsehen. Bei MTV war vieles möglich, was beim herkömmlichen Fernsehen streng verboten schien. Man erfand analog zum Discjockey den Videojockey und noch einiges mehr.

Die Redakteure durften Fehler machen, und manchmal wurden die Fehler Programm

"Wir hatten die Freiheit, das Fernsehen und die Musiklandschaft zu verändern", erinnert sich Steve Blame. Der Brite, der heute Fernsehformate entwickelt und Drehbücher schreibt, war 1987 als Moderator dabei, als MTV Europe an den Start ging. Fast alle, die damals für den Sender arbeiteten, waren blutige Anfänger. Blame war 28 Jahre alt, als er vor die Kamera geschubst wurde, und er war extrem unsicher. Mick Jagger, den Dalai Lama, David Bowie und Michail Gorbatschow bekam er trotzdem vors Mikrofon, weil viele sehr rasch kapierten, dass man über diesen Kanal die eigene Wirkung multiplizieren konnte. Oft war nur ein kurzes Statement drin, aber das reichte für einen Sender, der vor allem daran interessiert war, den Raum zwischen den Clips halbwegs angemessen zu füllen. Man durfte Fehler machen, und manchmal wurden die Fehler Programm.

Schaut man sich das aktuelle MTV-Angebot an, das mit all seinem Trash vor der Rückkehr aus dem Pay-TV wie ein einziger Fehler, wie ein großer Haufen Reality-Gerümpel wirkt, dann kommt man nicht auf die Idee, dass Fehler etwas Gutes sein können. Aber damals waren sie halt der Motor, der für ungeahnte Beschleunigung sorgte.

Die Erfahrung hat auch Christian Ulmen gemacht. Der ist heute Schauspieler, hat aber Mitte der Neunziger bei MTV in London angefangen als Moderator. Damals noch in englischer Sprache. "Ich klang unfassbar deutsch", berichtet Ulmen und erzählt auch von den Reaktionen: "Die Engländer fanden das lustig, und die Deutschen haben sich für mich geschämt." Aber er hat einfach gemacht, was ihm in den Sinn kam. Das durfte man bei MTV nicht nur, das musste man quasi. Improvisation hieß mangels materieller Ausstattung das Gebot der Stunde, das bis heute nachwirkt.

"Was aus der Improvisation geboren wird, kann einen neuen Stil erschaffen", glaubt Ulmen. Waren etwa Wackelkameras bei MTV anfangs nur Zeugnis einer unzulänglichen technischen Ausstattung, avancierten sie rasch zu einem bewusst eingesetzten Stilmittel. Und weil der Platz in den Studios nicht reichte, mietete man nebenan eine Wohnung an, die aber nur mit einer Kamera zu erfassen war, die Bilder aus einer Art Froschaugenperspektive lieferte. "Das war kein Look, das war aus der Not geboren", sagt Ulmen. Es sah auf jeden Fall anders aus. Kurz danach wollten andere auch so eine Froschaugenkamera.

"Dem Zufall eine Chance geben", nennt Ulmen das und benennt auch die Spätfolgen. "Diese Furchtlosigkeit damals, die hat mich geprägt. Wenn man so will, zeigt auch Ulmens Serie Jerks, deren zweite Staffel er gerade im Schneideraum bearbeitet, die Auswirkungen der MTV-Zeit. "Da arbeiten wir ähnlich. Wir lassen es darauf ankommen und vertrauen darauf, dass schon etwas passieren wird."

In Zukunft will sich MTV auch an nicht mehr ganz junge Zuschauer richten

Bei MTV wurde der Mut spätestens nach der Jahrtausendwende abgelöst durch Orientierungslosigkeit. Irgendwann strich man gar den Zusatz Music Television aus dem Logo. Vielleicht auch als Reaktion auf die vielfache Totsagung des Musikfernsehens. Weil Musik spätestens durch das Aufkommen des Internets überall verfügbar wurde, sank ihre Wichtigkeit für junge Zuschauer. Diese versuchte MTV verzweifelt mit einer Flut von Reality-Shows zu binden. Mit denen hatte man schon in den 90er- Jahren Erfahrungen gemacht. Da lief The Real World, ein Format, das in den USA vorweg nahm, was Big Brother später perfektionieren sollte.

"Wir sind einer der Erfinder der Reality", sagt Mark Specht. Er ist als Geschäftsführer des Medienunternehmens Viacom zuständig für MTV in der aktuellen Form, und er will dem Sender wieder etwas von dem zurückgeben, was er einst hatte. Sagt er. "Vielen fehlt die Kuratierung der Musik. Das wollen wir leisten", skizziert er die neue Aufgabe für das deutsche MTV. Den Einwand, dass es heute doch Youtube und andere Anbieter gebe, weist er zurück: "Das Problem der ständigen Verfügbarkeit führt dazu, dass ich am Ende nicht mehr weiß, was ich hören soll", sagt er.

Auch die über die Jahre auf "ganz jung" gesetzte Zielgruppe des Senders hat Specht angepasst. "Wir möchten möglichst viele Leute in Deutschland erreichen, nicht nur junge", sagt er. Es sollen nicht mehr nur die schauen, die unter 30 sind, auch jene, die an die 50 heranreichen, sind willkommen. "Musik ist inzwischen mehr ein Thema des Lifestyles als des Alters", erklärt Specht, der auch ein Wiedersehen mit Reality-Klassikern wie Punk'd oder Pimp My Ride verspricht. Allerdings soll die Musik den Schwerpunkt bilden. Rund 13 Stunden am Tag sind ihr vorbehalten, der Rest ist Realitykram.

Dass Figuren wie Joko und Klaas, die mit MTV Home das begonnen haben, was sie gerade mit Circus Halligalli beerdigten, noch einmal zum Sender zurückkehren, hält Specht für ausgeschlossen. "MTV Home mit Joko und Klaas war ein großartiges Format, aber wir möchten nicht das wiederholen, was wir schon mal gemacht haben", sagt er. "Wir glauben, dass wir ein gutes Angebot haben", fügt Specht dann noch an, will aber nicht verraten, welche Kennzahlen das Comeback zum Erfolg machen würden. Ob er so irgendwen findet, der lauthals "I want my MTV verkündet"?

Im Laufe des Dezembers beginnt nun nach einer vorsichtigen Modifizierung des Programms, das den Sender aber kaum weniger trashig wirken lässt, die Rückkehr ins Free TV. Es dürfte ein bisschen dauern, bis das alle Kabelnetzbetreiber umgesetzt haben. Aber spätestens am 1. Januar soll alles in trockenen Tüchern sein. Dann ist MTV zurück. Für wen auch immer.

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Quelle:
SZ vom 02.12.2017
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