Musik im Fernsehen:Lieder untermalen das zelebrierte Leid

Das Supertalent, RTL

Die Juroren des Supertalents (von links: Bruce Darnell, Victoria Swarovski und Dieter Bohlen) bereiten sich auf ein Konzert mit der "Motorposaune" vor.

(Foto: RTL / Stefan Gregorowius)

Das deutsche Fernsehen ist voller Formate, in denen gesungen wird. Um Musik geht es darin aber kaum.

Analyse von Hans Hoff

Das Fernsehjahr verabschiedet sich mit jeder Menge Musik, zumindest auf den ersten Blick. Am 17. Dezember lässt RTL beim Supertalent-Finale letztmalig vorsingen, einen Tag später geht es bei The Voice auf die Zielgrade. Es folgt die Weihnachtsausgabe von Sing meinen Song, und einen Tag nach Heiligabend gibt auch Helene Fischer ihren musikalischen Senf zum Festbraten.

Zum zweiten Blick allerdings passt eine Meldung zur neuen, mittlerweile 14. Staffel von Deutschland sucht den Superstar, der wahrscheinlich berühmtesten Gesangsshow des Landes. In dem 2500 Zeichen langen Text kommt nicht einmal das Wörtchen "Musik" vor. Das ist unfreiwillig folgerichtig, denn um Musik geht es am allerwenigsten in vielen Sendungen, die von sich behaupten, es ginge ihnen um Musik.

Es tönt, es klingt, aber im Vordergrund stehen geschickt verpackte Emotion, Aufregungserzeugung und Schicksalsausbeutung. Musik ist lediglich das Bett, in dem die nötige Spannung gezeugt wird, um die Quote oben zu halten.

"Im Prinzip ist das deutsche Musikfernsehen tot"

"Im Prinzip ist das deutsche Musikfernsehen tot", sagt Jochen Rausch. Im Fernsehen finde Musik nur noch "zur Garnitur" statt. Der Romanautor verantwortet im Nebenjob die sogenannten Breitenprogramme im WDR-Hörfunk. Gerade hat seine Abteilung die "Eins Live Krone" verliehen an vorwiegend frische Musiker. "Das ist eine der letzten Sendungen, wo noch jüngere Künstler auftreten", sagt Rausch über die zugehörige Fernsehshow und sieht sich mit einem besonderen Phänomen konfrontiert: "Wir haben mit manchen Videos im Netz deutlich höhere Zugriffszahlen als mit der eigentlichen Ausstrahlung." Die Krümel schlagen also den Kuchen.

Dass die Zuschauer bei den gängigen Castingshows trotzdem dranbleiben, widerspricht für Rausch nicht seiner These vom verstorbenen Musikfernsehen. "Da geht es nicht so sehr um die Musik oder den Song, sondern darum, wie sich jemand präsentiert, ob er sich blamiert oder es hinkriegt. Und der Zuschauer kann mitfiebern oder sich amüsieren."

Eine Sendung wie das britische Later With Jools, wo sich mehrere Bands in einem BBC-Studio nacheinander präsentieren, sucht man hierzulande vergeblich. Auch Hugo Egon Balders Versuch, das ähnlich gelagerte französische Format Taratata auf deutsche Schirme zu bringen, ist vor rund zehn Jahren gescheitert.

Das war nicht immer so, denn es gab im deutschen Fernsehen eine Zeit, da rangierte junge Musik in unverfälschter Reinform durchaus als selbständige Programmsensation. So war es etwas Besonderes, als die ARD 1965 den Beat-Club eröffnete. Dort wurden samstags all jene Bands präsentiert, die ansonsten im Fernsehen unerwünscht waren. Später zog dann auch das ZDF nach, schaffte aber mit Ilja Richters Disco 1971 nur eine halbgare Mischung aus Pop und Schlager und gänzlich unlustigen Sketchen des Moderators.

Es gab legendäre Konzerte mit betrunkenen Musikern

Als der Beat-Club 1972 die Pforten schloss, folgte der Musikladen. Später entwickelte der WDR den Rockpalast. Von 1977 an waren ganze Nächte für Livemusik reserviert. Es gab legendäre Konzerte mit betrunkenen Musikern und Gitarrensoli, die niemals zu enden schienen. Es ging darum zu zeigen, wie Musik ist, wenn man sie befreit von allem Tralala.

Trotzdem blieb Musik im Fernsehen Ausnahmeprogramm. Für den Regelbetrieb taugte sie nicht. Wenn etwa einige Jahre später bei Wetten, dass..? ein berühmter Popstar auftrat, dann stieg die Leistung der deutschen Wasserwerke, weil so viele Menschen auf einmal die Klospülung betätigten. "Musik funktionierte da nicht, wenn es nur Musik war. Es ging, wenn es eine Mischung aus Optik und Musik war", erinnert sich Axel Beyer, Studiendekan an der Hochschule Fresenius in Köln und früherer Showchef bei WDR und ZDF. "Selbst bei Madonna haben wir drei bis vier Millionen verloren." Man habe sich schließlich bemüht, Musik anders zu verkaufen.

Ein plaudernder Bowie sorgte für Sympathien - und Quote

Mit Emotionsverstärker. So wurde dann etwa David Bowie gebeten, vor seinem Song auf die berühmte Couch zu kommen, ein bisschen zu plaudern und erst danach zu singen. Prompt wirkte der sonst so unnahbare Bowie sympathisch und nahbar. "Diese Übertragung hat man sonst beim Musikfernsehen viel zu selten hinbekommen", sagt Beyer.

Das Verhältnis des deutschen Fernsehens zur Musik änderte sich radikal, als 1981 die Industrie entdeckte, dass sie sich nicht länger abhängig machen musste von öffentlich-rechtlichen Showredakteuren. Kurzerhand produzierten Plattenfirmen die Bilder zur Musik selbst und schickten sie per MTV um die Welt. In Deutschland zog man mit Viva nach, und die ARD erfand Formel Eins, um all der hereinschwappenden Konservenklänge Herr zu werden.

Auf einmal tat sich dann auch etwas im Regelbetrieb. Plötzlich war Popmusik am Samstagabend sendbar. Bei Wetten, dass. .? und Geld oder Liebe mit Jürgen von der Lippe aufzutreten, lohnte sich für Musiker. Am folgenden Montag schossen die Verkaufszahlen empor.

Bei Jürgen von der Lippe dauerten die Ansagen länger als der Song

Das lag bei Wetten, dass. .? vor allem daran, dass es Europas größte Show war. Etwas anders lag der Fall bei Geld oder Liebe. Die WDR-Show konnte an die Quoten von Wetten, dass. .? nie heranreichen. Trotzdem waren Auftritte dort heiß begehrt, weil sie den gleichen Effekt erzielten wie ein Gastspiel bei Thomas Gottschalk. Das lag vor allem an Jürgen von der Lippes musikalischem Enthusiasmus und seinen ausführlichen Ansagen, die manchmal länger dauerten als der folgende Song.

Dass sich der Niedergang der Musik im Fernsehen trotzdem beschleunigte, lag vor allem am Internet. Zuerst erwischte es die Plattenfirmen, die nicht nur hinnehmen mussten, dass MTV und Viva in die Bedeutungslosigkeit rauschten; sie mussten auch erleben, dass alles kostenlos aus dem Netz gesaugt wurde. Musik erlitt einen heftigen Bedeutungsverlust, weil sie offenbar nicht mehr wert war, gekauft zu werden.

Es folgte das Smartphone, das inzwischen den größten Anteil am Freizeitvermögen junger Menschen für sich beansprucht. Wer sich früher über die Vorliebe für irgendeine Band definierte, hantiert heute mit Apps, weshalb traditionelles Fernsehen im Sichtfeld junger Menschen schon gar nicht mehr vorkommt.

Im heutigen Fernsehen fließt musikalisch vor allem der Mainstream breit und bräsig durch seifige Kanäle. Da dient Musik nur noch der konfektionierten Untermalung von pseudoemotionalen Prozessen, die nicht länger an den Enthusiasmus eines Moderators gebunden sind, sondern abhängen von Abläufen, bei denen irgendwelche Kandidaten durch lauwarm temperierte Gefühlsbäder geschickt werden. Ob das in irgendeiner Weise echt ist, interessiert genauso wenig wie das wahre Wesen von Musik, das zu Showzwecken skrupellos ausgeweidet wird.

Sucht man dieser Tage nach Sendungen, die Musik wirklich und ehrlich in den Vordergrund stellen, kommt man schnell zur Beschreibung einer Not. Bei Circus Halligalli dürfen noch Rockbands auftreten, bei Inas Nacht sind noch ein paar Singer-Songwriter am Start, und auch beim Neo Magazin Royale tönt es ab und an zeitgemäß. Jenseits dieser Leuchttürme wird es dann aber sehr schnell finster, ist alles nur Gefälligkeit und Gefühlsvortäuschung, auch wenn das bei The Voice natürlich sympathischer inszeniert ist als in den Shows mit Dieter Bohlen.

Zu alldem passt, dass im November ein sehr ambitioniertes Projekt Insolvenz anmelden musste. Bei Tape.tv wollte man rund um die Uhr den Fans ihre Lieblingskünstler nahebringen. Acht Jahre hat das Projekt gelebt, von der Idee bis zur Pleite. Obwohl Tape.tv ein reines Internetprojekt war, wirft es doch ein Licht auf die veränderte Rolle von Musik im Fernsehen.

"Im Fernsehen geht es um Gefühle, also gehört Musik zwingend ins Fernsehen"

Natürlich gibt es auch jene, die der These vom Ableben der Musik im Fernsehen vehement widersprechen. Zu ihnen gehört naturgemäß Tom Sänger. Als RTL-Showchef ist er für etliche Programme verantwortlich, die sich mit Musik schmücken. "Musik ist eine Sprache des Gefühls, und im Fernsehen geht es um Gefühle, also gehört Musik zwingend ins Fernsehen", sagt er und hält nichts von der Theorie, dass Musik heute eher einer Beschallung vom Rande her gleicht. "Natürlich sind unsere Shows von den Charakteren und den Storys angetrieben, aber ohne Musik ginge viel Emotion schlicht verloren."

Auch die Tatsache, dass Musik immer polarisiert, verbucht der RTL-Mann keineswegs auf der Nachteilseite. "Polarisieren gehört ja zu einer Emotion. Wenn alles gleich empfunden würde, wäre das die Entdeckung der Langeweile", sagt er und kündigt an, dass sein Sender den Musikanteil keinesfalls reduzieren werde.

Die Zeit, da Musik nur um ihrer selbst willen präsentiert wurde, sieht aber auch Sänger als vergangen an. "Musik-Promotion im Fernsehen ohne einen dramaturgischen Zusammenhang oder ein klares Konzept ist sicher nicht mehr zeitgemäß", sagt er. Es reicht eben nicht mehr aus, einfach ein Instrument in die Hand zu nehmen und vor einer Kamera zu singen. Ein bisschen muss es schon krachen drumherum. Nur wenn es emotional bewegt, wenn es rührt, ist es heute wohl Fernsehen.

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