Diese Geschichte soll mit einem Anfang beginnen, und am Anfang steht eine Lüge. An einem Tisch sitzen eine schlecht frisierte, plumpe Blondine und ein Kommissar, der seine Kindheit aufarbeiten soll, jener Polizeipsychologin aber im wahrsten Sinne des Wortes Geschichten vom Pferd erzählt. Von seinem Vater, einem Geiger, der sich im Pferdestall erhängt habe, von der Stallmeisterin, die den Vater fand, und ihm, dem Kommissar, (Vorsicht zweideutig) das Reiten beibrachte. Die Geschichte gefällt der Psycho-Blondine. Dann verlässt der Kommissar den Raum. Die Show ist vorbei.
So beginnt der neue Polizeiruf 110 mit Matthias Brandt als Kommissar Hanns von Meuffels. Kommende Woche hat er auf dem Filmfest München Premiere, im Juli wird er ausgestrahlt. Und "Der Tod macht Engel aus uns allen" über den Tod einer Transsexuellen im Polizeigewahrsam, dürfte in den kommenden Monaten den einen oder anderen Fernsehpreis gewinnen.
Vor allem die Figur des Ermittlers ist spannend
Im Sommer 2011 ist Kommissar Hanns von Meuffels nach München gekommen, in den Polizeiruf des BR. Es hat ein paar gute Filme mit ihm gegeben und ein paar sehr gute, sehr unterschiedliche Genres. Spannend ist aber vor allem der Ermittler: Die Figur des Adeligen hat das erlernte Bauprinzip des deutschen Fernsehkrimis umgekehrt. Und das, obwohl erlernte Bauprinzipien im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekanntlich etwa so leicht zu variieren sind wie die Titelmelodie der Tagesschau.
Das Drehbuch zum Polizeiruf hat Günter Schütter geschrieben, von dem schon das erste Buch für Meuffels stammte, "Cassandras Warnung", von Dominik Graf verfilmt, ebenso wie Schütters "Der Scharlachrote Engel", der Grimmepreis -Polizeiruf mit Edgar Selge. Jetzt führte Jan Bonny Regie.
Trifft man Schütter und Matthias Brandt in einer Bar in München, in der das Licht am frühen Abend schon schwach ist, erklärt Brandt die Sache mit Meuffels so: "Wenn man eine Rolle in einer solchen Reihe übernimmt, dann gibt es die Falle, dass man als Schauspieler denkt: Ich mache jetzt mal alles, was ich schon immer mal machen wollte." Dann überfrachte man eine Figur mit Attributen, die man mühsam aufrechterhalten und bedienen muss.
Ein todtrauriges und zugleich sehr lustiges Buch
Es ist doch so: Die deutschen Fernsehkommissare, im Tatort, in all den lustig gemeinten Vorabendserien, treten ihr Amt mit einem Sack voller Eigenschaften an, mit einem nicht aufgearbeiteten Unfalltrauma, mit einem verrückten Pathologen als Vermieter. Der Zuschauer kennt die Typen, er weiß, wie sie reagieren.
Hanns von Meuffels ist von vornherein erstmal der Mann ohne Eigenschaften. Doch er handelt, und aus allem, was er tut, kann man sich nach und nach ein Bild davon machen, wie dieser Mann sein könnte. Der Psychologin sagt er nichts Wahres, aber verrät damit im Grunde ja noch viel mehr über sich. Wenn man so philosophisch will, ist das Induktion statt Deduktion. Oder einfach: Fernsehen, wie es die Amerikaner machen.
Günter Schütter, ein zierlicher, zurückhaltender Mann, für den Attribute wie Verschrobenheit und trockener Humor keine Klischees, sondern die Wahrheit sind, hat für diesen fünften Fall von Hanns von Meuffels ein großartiges Buch geschrieben. Es ist todtraurig und sehr lustig, mit einem Schluss, den man schon mutig nennen darf, und mit wahnsinnigen Dialogen, bei denen man Sorge hat, dass sich manche unbemerkt versenden könnten. Weil man schon etwas genauer hinhören muss, was ja ehrlich gesagt nicht die Regel ist.
Schütter sagt, dass der Großteil der Fernsehfilme heute nach dem Brettlbühnenprinzip funktioniere, im Sinne von: "Kommt jetzt mal alle nach vorne". So also, dass mit größtmöglicher Sicherheit ein größtmöglicher Teil des Publikums bei jeder Pointe mitkriegt, dass sie bald um die Ecke kommt. Bei den Pointen, die Günter Schütter für Matthias Brandt geschrieben hat, gibt es kein Frühwarnsystem.
Frage nach der Wohnzimmereinrichtung bleibt eine Leerstelle
Das Drehbuch funktioniert wie ein Schaukasten. Meuffels ermittelt intern auf einer Polizeiinspektion, und während die Frage nach der Wohnzimmereinrichtung des Kommissars jene Leerstelle bleibt, die sie sein soll, werden wie mit wenigen Pinselstrichen die Lebenssituationen der unter Verdacht geratenen Polizisten hingetupft. Man sieht den einen, dessen Frau nicht versteht, welches Leben man sich von einem Polizistengehalt leisten kann, man sieht den anderen, dessen Frau ihn nicht ertragen kann. Nichts davon wird zu Ende erzählt, nichts davon ist überflüssig.
Ein Typ wie Schütter, der diesen Humor hat und dieses Gefühl für Szenen, wäre in den USA vermutlich eine Art Star. Doch ohne grundsätzlich systemkritisch zu werden, gibt es dort auch keine gebührenfinanzierten Redakteure, von denen - sagt Schütter - viele Angst haben, ihren Abteilungsleitern Drehbücher vorzulegen, "die nicht schon vollkommen entkernt sind".
Gute Filme trotz und wegen der Sender
Die klassische Frage an Autoren gehe so: "Könntest du dir vorstellen, diese Szene hier rauszunehmen?" Schönste Bedenkenträgerprosa. Wahr ist aber auch, dass Schütters großartige Filme im selben System entstehen. Die Arbeit sei nie so leicht gewesen wie hier, sagt er. Gute Filme trotz und wegen der Sender, so ist das eben.
Günter Schütter schreibt gerade am nächsten Film für Meuffels, den Mann ohne Attribute, und ein bisschen besser versteht man die Kunst dieser Figur vielleicht, wenn Matthias Brandt das hier sagt: Er finde es oft erstaunlich, dass wir heute offenbar noch immer ein Bild des Schauspielers aus dem 19. Jahrhundert haben.
In den Nachrufen auf James Gandolfini etwa habe es immer geheißen, "er sei zwar als Tony Soprano großartig, aber eben kein Virtuose gewesen, weil er vermeintlich immer nur sich selbst gespielt habe". Genau das sei aber besonders schwer, weil die Skrupel so groß sind. "Man weiß dann eben sehr genau, wenn's nicht stimmt". Hanns von Meuffels zu spielen, bedeutet, kein Kostüm zu haben. Man hat nur sich selbst.