München-Dokuserie "Schickeria":Stadt der vergessenen Träume

München-Dokuserie "Schickeria": Iris Berben ist da, um alles zu erklären - die Dokuserie "Schickeria - Als München noch sexy war".

Iris Berben ist da, um alles zu erklären - die Dokuserie "Schickeria - Als München noch sexy war".

(Foto: Constantin Film/Heinz Gebhardt)

München war nicht immer ein Dorf: Die vierteilige Dokuserie "Schickeria" weist über ihr leichtgewichtiges Thema hinaus.

Von Tobias Kniebe

Was die Stadtgeschichtsschreibung Münchens betrifft, wurden die Haie bisher stark vernachlässigt. Dreißig Stück waren es, wenn man der Erzählerin Iris Berben glauben darf, die einst in der Disco "Yellow Submarine" in der Leopoldstraße herumschwammen, in einem Aquarium, das die Tanzfläche kreisförmig umgab.

In der vierteiligen Dokuserie Schickeria, erstellt von Janek Romero für die Münchner Constantin Film und Amazon Prime, sieht man diese Haie für ungefähr eine Sekunde. Danach kreisen sie allerdings weiter im Kopf herum. Wie kann es sein, dass man - kein Kind der Stadt, aber doch seit mehr als dreißig Jahren in München - nie von den Viechern gehört hat, die jedem Bond-Film zur Ehre gereicht hätten?

Es kann sein, weil in München tatsächlich mal viel los war - zu viel, um alles in eine kohärente Chronik zu packen. Und weil viele Ideen nur kurz aufleuchteten, dann aber wieder verschwanden. Man liest nach: Schon ein Jahr nach der Eröffnung 1971 geriet das "Yellow Submarine" in den Abwärtsstrudel des architektonisch und konzeptionell gewagten Shopping- und Freizeitzentrums "Schwabylon" nebenan, das demselben Investor gehörte. Da hatte sich ein Visionär wohl einfach übernommen.

Die Haie waren bald weg, irgendwann auch das Schwabylon, noch später die Disco und schließlich alles. Heute ist kein Stein davon mehr vorhanden. Was zu einem heftigen Gefühl der Nostalgie führen kann, nicht nur bei jenen, die dabei waren. Wer nicht dabei war, ist für solcherlei Trauer fast noch anfälliger - denn nichts kann natürlich an die imaginären Münchner Haie heranreichen, die nun für immer in der eigenen Fantasie herumschwimmen.

Zu diesem Vanitas-Gefühl passt auch der Untertitel der Serie: "Als München noch sexy war". Das soll erst einmal bloß die Zuschauer anlocken, trifft aber zugleich eine endgültige Feststellung über die Gegenwart: Sexy ist in München halt gar nichts mehr. Widerspruch? Nicht zu erwarten. Und obwohl das gar nicht der Fokus der Dokumentation ist - die gar keinen wirklichen Fokus hat, weil sie wild und chaotisch durch alles springt, was in der Stadt von den Hippiezeiten bis zu den dekadenten Achtzigerjahren eben so passiert ist - werden wie nebenbei die Urheber der einstigen Sexyness dingfest gemacht. Es sind allesamt erstaunliche, zum Teil längst vergessene Pioniere.

Kaum zu ermessen, was zwei vergessene Brüder für München getan haben

Zum Beispiel die Samy-Brüder "aus dem Kaukasus", wie es heißt, sie waren Iraner. Diese eröffneten 1967 den "Drugstore", bald Münchens zentraler Hippieladen, dann das "Blow Up", Deutschlands erste Großraumdisco, und schließlich das "Citta 2000", ein hippes Einkaufszentrum, dessen Idee direkt aus dem Swinging London geklaut war. (Inzwischen auch alles weg). Und so ging es weiter: die ersten Peepshows, die ersten Mainstream-Sexfilme ("Schulmädchenreport"), die ersten Synthesizer, auf einen Klicktrack gelegt, mit dazugehörigem futuristischen Studio (Giorgio Moroder) und so fort - alles Innovationen, die dann teilweise auch die größten Namen der Zeit anzogen, von Jimi Hendrix über Freddie Mercury und Queen bis hin zu den Rolling Stones.

Im Nachhinein fast unerklärlich ist, wie dieses Ganz-vorne-Dransein und die stetige Präsenz von Weltstars mit dem gemütlichen, provinziellen, immergleichen München-als-Dorf-Gefühl zusammengehen konnte, das es genauso gab und natürlich immer noch gibt. Aber es existierte wohl eine Zeit lang einfach beides zugleich - bis das Dorf und seine Bussi-Bussi-Gesellschaft durch reine Beharrungskräfte wieder die Deutungshoheit eroberten. Ungefähr diesen Moment, das helle Leuchten des Wahnsinns vor dem Untergang, hat Helmut Dietl dann auch in "Kir Royal" für immer gültig eingefangen.

Die Zeitzeugen, die zu Wort kommen, sind alles unverwüstliche ältere Dorfbewohner, die anderen leben halt nicht mehr - und von denen, die vor der Kamera erzählt haben, sind auch schon wieder welche gestorben, etwa der Schauspieler, Fotograf und Filmemacher Roger Fritz. Es bleiben die superüblichen Verdächtigen, angefangen von Iris Berben und Thomas Gottschalk über Michael Graeter, Uschi Glas, Kleo Kretschmer, Michael Käfer, Günter Sigl von der Spider Murphy Gang, und so fort. Wenn die so gemütlich dasitzen und sanft pädagogisch erklären, wie wild alles einmal war, schaltet man geistig eher ab.

Und doch sind diese vier Folgen reich genug, um sich nostalgisch darin zu verlieren - reich an tausend alten Dokumentarschnipseln, körnig fotografierten Männertollen und Frauenbeinen in Miniröcken sowie vergessenen Träumen, die nebenbei kurz aufblitzen wie bei dem Hai-Aquarium. Heftige Stimmt-so-war-das-Gefühle, oder aber die ziellose Trauer der Nachgeborenen, sind beim Schauen durchaus möglich.

Schickeria - Als München noch sexy war. Vier Folgen, auf Amazon Prime.

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