Süddeutsche Zeitung

Modernes Fernsehen:Alles ist möglich

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Die grandiose fünfteilige Dokumentation "O. J.: Made in America" beweist, dass die gegenwärtig besten Serien sich nicht auf erfundene Geschichten verlassen.

Von Jürgen Schmieder

"Wir reden über diesen Fall?" O. J. Simpson blickt verzweifelt, verbittert. Gerade wurde ihm während einer Anhörung in einem Gefängnis in Nevada die Frage gestellt, wann er zum ersten Mal in seinem Leben verhaftet worden sei. Er verbüßt dort eine Haftstrafe von 33 Jahren, seit er in Las Vegas vor neun Jahren einen Souvenirladen ausgeraubt hat, doch diese Frau will ganz offensichtlich darüber gar nicht reden - sondern wieder nur über diesen Fall. Über diese Verhaftung. Über diese Gerichtsverhandlung.

So beginnt die Dokumentarserie O. J.: Made in America, die derzeit auf dem amerikanischen Sportsender ESPN zu sehen ist und sich nur vordergründig mit dem ehemaligen Footballspieler beschäftigt und der Gerichtsverhandlung wegen Mordes an dessen ehemaliger Ehefrau Nicole Brown und deren Freund Ronald Goldman. In Wahrheit handelt die fünfteilige Doku-Serie von Rassismus und Sexismus, vom gesellschaftlichen Kastensystem in den Vereinigten Staaten, von der Macht der Medien. An diesem Wochenende endete die vielleicht beste Serie der vergangenen Jahre im US-Fernsehen, vor drei Wochen lief sie als 464-Minuten-Film in einigen Kinos, weshalb O. J. sowohl einen Emmy als auch einen Oscar gewinnen könnte.

O. J.: Made in America ist ein Teil der ESPN-Reihe 30 for 30, in der bedeutende Momente der Sportgeschichte aufgearbeitet werden - es geht dabei stets um mehr als nur um Sport: In One Night in Vegas wird ein Zusammenhang zwischen dem Tod des Rappers Tupac Shakur und dem Niedergang des Boxers Mike Tyson hergestellt, The Other Side thematisiert eine Jugend-Fußballmannschaft mit Spielern aus Israel und Palästina, Of Miracles and Men erzählt das legendäre Eishockeyspiel zwischen Russland und den USA bei den Olympischen Spielen 1980 aus Sicht der Russen.

Diese Dokumentarfilme dauern normalerweise 45 Minuten, füllen also inklusive Werbung eine Stunde im amerikanischen TV. Welch neue Erzählstrukturen möglich werden, wenn Werbepausen nicht mehr den Rhythmus einer Geschichte bestimmen, weiß man seit dem Serien-Boom bei Bezahlsendern wie HBO und Portalen wie Netflix. Die Serienrevolution, die seit einigen Jahren die Feuilletons beschäftigt, wäre bei begrenzter Episodenlänge, dem Zwang zu Werbepausen und dem Druck des permanenten Cliffhangers niemals möglich gewesen.

Und das gilt längst nicht mehr nur für fiktionale Geschichten, Dokuserien wie The Jinx oder Making a Murderer, die in epischer Breite, mit großem Rechercheaufwand und tollen Bildern alte Mordfälle aufarbeiten, sind auf dem reichlich überhitzten Serienmarkt gerade der ganz heiße Scheiß. Beim aktuellen Beispiel O. J.: Made in America ist es völlig egal, ob man das Werk in einem Kino sieht oder zu Hause alle drei Tage eine Folge im Fernsehen anschaut. Die Geschichte trägt hier und dort leicht über die lange Sendezeit.

Regisseur Ezra Edelmann sucht in O. J.: Made in America nicht nach Beweisen für eine zuvor festgelegt Theorie, er klagt niemanden an, er hebt noch nicht einmal einen mahnenden Finger. Er beschreibt einen Menschen, der glaubte, in dieser amerikanischen Gesellschaft über dem Gesetz zu stehen. Simpson wird aufgrund seiner sportlichen Leistungen hofiert und in einen Golfklub aufgenommen, in dem alle anderen Mitglieder hellhäutig sind. Er beschummelt Freunde bei Wetten und kommt damit davon. Polizisten versichern ihm, dass sie schon mal ein Auge zudrücken würden. Er sagt den berühmten Satz: "Ich bin nicht schwarz - ich bin O. J.!"

Der Regisseur lässt die mehr als 70 befragten Personen (es fehlen Richter Lance Ito und der mittlerweile verstorbene Verteidiger Johnnie Cochran) wichtige Details scheinbar lapidar ausplaudern: Simpsons früherer Manager Mike Gilbert erzählt, dass er seinem Klienten vor dem Anprobieren der Handschuhe geraten habe, durch den Verzicht auf Medikamente seine Hände anschwellen zu lassen. Anwalt Carl Douglas berichtet von Umbauten in Simpsons Haus, um die schwarzen Geschworenen milde zu stimmen. Verteidiger Barry Scheck philosophiert darüber, dass er seiner eigener Beweisführung nicht geglaubt habe.

Es geht nicht darum, ob Simpson schuldig ist - sondern warum ihn die Geschworenen in diesem politischen Klima freisprechen mussten. Edelmann lässt zahlreiche Meinungen und Blickwinkel zu, er zeichnet ohne eigene Wertung das Bild eines kaputten Justizsystems und einer gespaltenen Gesellschaft. Es geht um einen Menschen, der einen unglaublichen sozialen Aufstieg hinlegt und am Ende trotz des Freispruchs brutal abstürzt. Es ist amerikanischer Traum und Albtraum zugleich.

O. J.: Made in America hätte den Emmy und den Oscar verdient. Es ist eine große Geschichte, brillant erzählt.

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SZ vom 20.06.2016
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