"Leaving Neverland":Eheringe in Kindergröße

Lesezeit: 2 min

Seit Leaving Neverland beim Sundance Film Festival in den USA vorgestellt worden ist, sorgt die Doku über Michael Jackson für Wirbel. (Foto: Sundance Institute)

Die Michael-Jackson-Doku "Leaving Neverland" ist eine gewaltige Anklage gegen den King of Pop. Handwerklich fantastisch und jetzt auch in Deutschland zu sehen.

Von Jürgen Schmieder

Es gibt diesen Moment am Ende des ersten Teils von Leaving Neverland, in dem selbst Michael-Jackson-Fans der Atem stocken dürfte. Es geht in diesem zweiteiligen Dokumentarfilm, der jetzt auch in Deutschland gezeigt wird, um die Missbrauchsvorwürfe gegen den 2009 verstorbenen Künstler, und der britische Regisseur Dan Reed führt den Zuschauer zwei Stunden lang zu diesem Augenblick: Es geht um Zungenküsse, orale Befriedigung, gegenseitige Masturbation - zwischen einem Erwachsenen und einem zehn Jahre alten Jungen.

James Safechuck ist dieser Junge, er ist heute 41 Jahre alt. In der Doku holt er einen mit Diamanten besetzten Ring aus eine Schatulle. Jackson habe ihm das Schmuckstück während einer Zeremonie an den Finger gesteckt, erzählt er, und ihn damit inoffiziell geheiratet. Safechuck will diesen Ring nun anstecken, doch er schafft es kaum bis über den Fingernagel der zitternden Hand. Der Ring passt, das ist deutlich zu sehen, nur an den Finger eines Kindes.

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Der Film polarisiert deshalb so ungemein (es gibt wahre Loblieder, aber auch heftige Proteste dagegen), weil er handwerklich fantastisch ist. Reed, 54, ist ein erfahrener, mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilmer, er hat sich im Film The Paedophile Hunter bereits mit dem Missbrauch von Kindern beschäftigt. Für seine aktuelle Doku tut er erst gar nicht so, als wolle er eine ausgewogene Geschichte erzählen, ein objektives Dokument abliefern oder sämtliche Blickwinkel präsentieren. "Es geht in diesem Film nicht um Michael Jackson, ich weiß noch nicht einmal besonders viel über ihn", sagte er kürzlich dem Magazin Billboard: "Es ist letztlich egal, ob es Jackson ist, ein Priester oder ein Freund der Familie, dem man sein Kind anvertraut hat."

Es geht darum, wie der "King of Pop" komplette Familien verführte

Reed erzählt die Geschichte aus der Sicht von Safechuck, mittlerweile Leiter für Innovation beim Technikkonzern Avatar Labs, und aus der Sicht des fünf Jahre jüngeren Wade Robson, der als Choreograf für Britney Spears, die Popband N'Sync und das Varieté Cirque du Soleil gearbeitet hat. Es geht darum, wie Jackson Ruhm und Reichtum dazu benutzt hat, nicht nur Kinder, sondern komplette Familien zu verführen. Sein Anwesen im Nordwesten von Los Angeles, eine Mischung aus Freizeitpark, Zoo und Süßigkeitenladen, sei der wahr gewordene Traum für Kinder gewesen - und wer, das suggeriert der Film, würde schon eine Einladung des so genannten "King of Pop" ausschlagen?

Der Film lenkt den Blick der Zuschauer und damit ihre Gefühle dahingehend, dass sie gar nicht anders können, als sich mit Safechuck und Robson zu solidarisieren. Beide erklären, getrennt voneinander und doch übereinstimmend, wie Michael Jackson sie jeweils jahrelang missbraucht haben soll und wie die beiden erst als Erwachsene und Väter bemerkt haben, was da damals passiert sein könnte. So umgeht Regisseur Reed auch den Vorwurf der Jackson-Nachkommen, dass Robson im Jahr 2005 für Jackson ausgesagt und einen Missbrauch bestritten habe. Diese Aussage war damals eines der Schlüsselelemente für den Freispruch. "Ich habe so lange lügen müssen", sagt Robson nun im Film: "Ich möchte jetzt endlich die Wahrheit sagen - so laut und so deutlich wie möglich."

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Der Film ist verstörend, gerade weil er, was Dramaturgie und Zuspitzung angeht, so gut ist, und es dürften weitere handwerklich erstklassige Werke über Jackson folgen. Die britische Rundfunkanstalt BBC hat gerade einen Dokumentarfilm des Investigativ-Filmemachers Jacques Peretti gekauft, der Ende des Jahres ausgestrahlt werden soll. Titel: Michael Jackson: The Rise and Fall.

Auch Dan Reed selbst hat in der vergangenen Woche angekündigt, womöglich eine Fortsetzung mit weiteren mutmaßlichen Opfern von Michael Jackson erstellen zu wollen.

Leaving Neverland , Pro Sieben, Samstag 20.15.

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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