Süddeutsche Zeitung

#MeToo und Dieter Wedel:Ein Skandal in grauen Aktenordnern

Lesezeit: 6 min

Der Saarländische Rundfunk stellt sich der Affäre um die sexuellen Übergriffe des Regisseurs Dieter Wedel und arbeitet eine lange vergessene Produktion von 1981 auf. Wie geht das?

Von Kathleen Hildebrand

So banal sieht das also aus, wenn ein Skandal aufgearbeitet wird. Drei Umzugskartons in der Ecke eines Konferenzraums, darin stapeln sich Ordner. Dunkelgrau marmoriert, im Inneren mal korallenrote, mal hellgelbe Trennblätter. Dazwischen sehr viel dünnes Papier, leicht gewellt. Nur das, was auf den Rücken der Ordner steht, klingt nicht mehr harmlos. Nicht, seit die Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen den Regisseur Dieter Wedel Anfang dieses Jahres bekannt geworden sind. Auf den Rücken der Ordner steht: "Bretter, die die Welt bedeuten".

Es ist der Titel jener von der 2007 liquidierten SR-Tochter Telefilm Saar produzierten Wedel-Serie aus dem Jahr 1981, bei deren Dreharbeiten einige dieser Übergriffe passiert sein sollen. Die Serie handelt von einer jungen Schauspielerin an einem Stadttheater, sie erlebt Tragisches und wird am Ende lieber Sängerin. So heiter ging es für die beiden Hauptdarstellerinnen nicht aus. Zwei Schauspielerinnen werfen Wedel vor, sie während der Dreharbeiten sexuell belästigt, beschimpft und gedemütigt zu haben. Eine von beiden, die Schweizerin Esther Gemsch, soll er so schwer an der Halswirbelsäule verletzt haben, dass sie die Dreharbeiten abbrechen musste. Ihre Nachfolgerin, Ute Christensen, berichtet, so schwer unter Wedel gelitten zu haben, dass sie eine Fehlgeburt erlitt. Wedel bestreitet alles.

Die Erkenntnis, dass der SR in den Fall Wedel verstrickt sein könnte, kam aus dem heitersten saarländischen Himmel. Zeit-Reporter Christian Fuchs meldete sich, bat um Einblick ins Senderarchiv. "Wir wussten nicht einmal, dass es überhaupt jemals eine Wedel-Produktion beim SR gab", sagt Peter Meyer, SR-Sprecher und Mitglied der Mitte Januar eingesetzten Task Force. "Wir haben bei null angefangen. Oder eher bei minus drei."

In den elf Ordnern dürfte alles enthalten sein, womit sich die Geschichte dieser offenbar katastrophisch verlaufenen Fernsehproduktion rekonstruieren lässt. Die Geschäftsleitung hat sich vorgenommen, genau das zu tun. Nicht, um Wedels Schuld oder Unschuld festzustellen, sondern um herauszufinden, was die Verantwortlichen über die Vorfälle wussten.

Dass es nicht nichts war, weiß man schon. Es lagen Arztberichte der verletzten Esther Gemsch vor, sie kündigte das Engagement, Ersatz musste gefunden werden. Die Drehkosten schossen in die Höhe. Aber warum zog niemand Konsequenzen? Die Bavaria Film hat ihre interne Untersuchung gerade abgeschlossen, ohne Belege für Übergriffe Wedels bei ihren Produktionen zu finden, der SR will Mitte April vorläufige Ergebnisse veröffentlichen.

Was macht das mit einem Sender, wenn plötzlich ein dunkles Kapitel in seiner Geschichte auftaucht? Ein Kapitel, das die große, nicht enden wollende "Me too"-Debatte um sexuelle Übergriffe auf Frauen direkt ins eigene Haus holt? Was macht das mit einem so familiären Unternehmen wie dem SR? Mit 800 Mitarbeitern ist er die zweitkleinste ARD-Anstalt, kleiner ist nur Radio Bremen.

Indizien legen nahe, dass die Intendanz Bescheid wusste

"Ich habe gedacht: Das geht gar nicht." SR-Intendant Thomas Kleist rutscht ein Stück vor, hinaus aus der Umklammerung des würfelförmigen Sessels in seinem ansonsten sehr luftigen Büro. Warum? "Weil nicht sein kann, was nicht sein darf." Kleist hat seinen Posten seit 2011 inne, er ist SPD-Mitglied, stammt aus dem Saarland und spricht dessen weichen, immer etwas gemütlich klingenden Dialekt. Ob er mit seinem Sender gehadert hat, als er von den Wedel-Vorwürfen erfuhr? "Nein, nie, aber es gab einen inneren Antrieb zur klaren Abgrenzung von dem, was damals geschehen ist."

Es gebe Indizien, hat Kleist in einem Interview gesagt, dass die Intendanz damals über die Vorfälle bei Wedels Dreh Bescheid wusste. Macht ihn das wütend? "Ich bin immer vorsichtig in der Beurteilung des Tun und Handelns anderer Menschen", sagt Kleist. "So was kommt vor. Auch wo es Sanktionsmechanismen gibt, wird Missbrauch nicht komplett verhindert. Aber man kann ihn erschweren, indem man ein Klima schafft, wo das ein absoluter Fremdkörper ist."

Ein Zeichen dafür, dass der SR von diesem Klima zumindest nicht ganz weit entfernt ist, sind die elf grauen Wedel-Ordner. Dass es die überhaupt noch gibt, ist einerseits ein gewaltiger Zufall. Andererseits ist es eine Entscheidung. Unternehmen müssen ihre Geschäftsunterlagen zehn Jahre lang aufbewahren, nicht länger. Die Wedel-Recherchen beim ZDF blieben aus diesem Grund ergebnislos: Es gibt keine Dokumente mehr. Aber beim SR war noch sehr viel da. "Das war ein ganz zufälliger Fund", sagt Justiziar Bernd Radeck, "wenn das Gebäude der Telefilm Saar verkauft oder abgerissen worden wäre, dann wären die niemals gefunden worden." Das heißt aber auch: Der SR hätte gar nicht zugeben müssen, dass es die Akten noch gibt. Es musste sie ja nicht mehr geben.

Radeck, groß, raspelkurze graue Haare, formuliert exakt und bedächtig. "Ich bin letztes Jahr 60 geworden und damit etwa genauso alt wie die Frauen, die Wedel die Übergriffe vorwerfen. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass in den Achtzigerjahren noch so ein Klima geherrscht hat, dass der Obrigkeitsstaat noch so präsent war. Das habe ich lernen müssen." Radeck sitzt zusammen mit den beiden anderen Task-Force-Mitgliedern an einem schlichten weißen Konferenztisch im Büro von Pressesprecher Meyer. Die Decken sind niedrig hier; in diesem Teil wirkt das Industriellen-Schlösschen aus dem 19. Jahrhundert, in dem die Intendanz des SR ihre Büros hat, etwas hutzelig.

An diesem Tisch trug sich im Januar jene Szene zu, die zeigt, dass sich hinsichtlich Hierarchien, Transparenz und Verantwortungsbewusstsein offenbar doch einiges verändert hat seit 1981. Und dass der Sender diesen Fall mit einer fast unwahrscheinlichen Gewissenhaftigkeit aufarbeitet. Armgard Müller-Adams, Leiterin der Intendanz, sagt: "Wir saßen genau hier mit Thomas Kleist und haben sofort gesagt: Wir legen das offen, wir machen das zugänglich." Nur das Wie stand noch zur Diskussion. Persönlichkeitsrechte mussten gewahrt werden, außerdem sollte neben der Zeit auch der SR selbst die Geschichte journalistisch aufbereiten.

Auch mit Dieter Wedel selbst hat die Geschäftsleitung Kontakt aufgenommen. Erst habe es so ausgesehen, sagt Bernd Radeck, als ob er mit ihnen reden wolle. Aber dann schrieb sein Anwalt, die Ärzte hätten ihm abgeraten. Das ist schade, denn vor allem interessiert den SR ja die Frage, wie es zu Machtmissbrauch kommen kann. Nicht nur in der Vergangenheit, sondern womöglich auch heute und in Zukunft. "Wenn es Machtstrukturen gab, die so was zugelassen haben", sagt Peter Meyer, dann musste der SR sich fragen: "Gibt es die heute noch? Gott sei Dank nicht mehr. Gibt es so ein Unternehmensklima noch? Gott sei Dank nicht. Aber wie können wir verhindern, dass es doch noch mal passiert?"

"Mein Land. Mein Sender." Das ist der Werbespruch des Saarländischen Rundfunks. Der SR steht für Heimat und für die Identifikation mit ihr, und vielleicht tut er das noch ein bisschen mehr als andere ARD-Anstalten. Der Halberg östlich der Innenstadt, auf dem das Schlösschen und, gruppiert um den rot-weißen Sendemast, neue und nicht ganz so neue Schachtelgebäude für Fernsehen, Hörfunk, Verwaltung stehen, ist synonym für den Sender. Hier blühen Krokusse auf kleinen Beeten. Jeder, der einem begegnet, grüßt. Ein historischer Pfad führt an den Schlossgebäuden vorbei. Die Saarbrücker kommen gern hierher zum Spazieren - auch wenn es durch verstärkte Sicherheitsvorkehrungen nach dem Pariser Charlie-HebdoAttentat weniger geworden sind. Armgard Müller-Adams sagt: "Wir identifizieren uns mit dem Unternehmen. Deswegen beschäftigt uns das Thema Wedel auch so."

Mit wem man auch spricht im Sender: Die Antworten schwanken zwischen zwei Polen. Der eine: Das gäbe es heute nicht mehr. Der andere: Was, wenn doch?

Barbara Lessel-Waschbüsch redet schnell, sehr deutlich, druckreif. Man merkt ihr an, dass sie seit Jahrzehnten Hörfunk macht. Außerdem ist sie seit 1997 Frauenbeauftragte des SR. "Es hat mich fassungslos gemacht, irritiert und aufgebracht, dass so etwas möglich war", sagt sie. Nachdem die Vorwürfe der Schauspielerinnen aus Bretter, die die Welt bedeuten bekannt geworden waren, wartete sie auf E-Mails, auf Anrufe von Kolleginnen und Kollegen. Sie rechnete mit Gesprächsbedarf. Aber es kam nichts. "Ich habe mich gewundert. Ich bin im Austausch mit den Kolleginnen bei der ARD, da läuft das anders, da melden sich mehr Frauen zu Wort. Da ist mehr Bewegung. Aber hier ist es still." Sie fragte sich: Warum ist es still? Weil es nichts zu reden gibt? Oder weil man die Konsequenzen fürchtet?

Aus einer grünen Mappe zieht sie ein Blatt Papier, darauf ihr Text aus dem Intranet: "Metoo - und hier ist alles anders?!" Wenn es beim SR irritierende Vorkommnisse gäbe, schrieb Lesse-Waschbüsch, dann könne man geschützt darüber sprechen. Es gebe keinen Grund, aus Sorge um seine berufliche Zukunft zu schweigen. Die einzige Antwort einer Kollegin: "Liebe Barbara, natürlich waren und sind Anzüglichkeiten und Übergriffe nicht akzeptabel. Aber beim SR habe ich keine erlebt."

Ist das jetzt Verunsicherung oder ist das Sensibilisierung?

48 Prozent der festen SR-Mitarbeiter sind Frauen und knapp unter 30 Prozent der Führungskräfte. Das sind recht gute Quoten. Nelly Theobald, feste freie Mitarbeiterin in der Nachrichtenredaktion, bearbeitet mit einer Kollegin den Fall und findet es gut, dass niemand von den Mitarbeitern verlangt, "die Füße still zu halten". Sie hat die Akten gelesen, hat die Schauspielerin Ute Christensen interviewt, als die auf Einladung des SR zu Gesprächen auf dem Halberg war. "Der SR ist ein sehr kleines Unternehmen", sagt Theobald, "aus dem Volontariat kenne ich hier jeden persönlich. Man kann so schon nichts geheim halten", sagt sie und lacht. "Wenn eine Frau heute im Sender so etwas erzählen würde, dann würden sofort Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt."

Also alles vorbei, alles anders? Zu Barbara Lessel-Waschbüsch kam, mitten in der Wedel-Debatte, ein Kollege und erzählte ihr einen Spruch, den er neulich im Gespräch mit einer Kollegin gemacht habe. Die habe das gar nicht schlimm gefunden, sagte er, aber er wolle doch noch mal mit ihr, der Frauenbeauftragten darüber reden. Die konnte ihn beruhigen, ein Übergriff war das wohl noch nicht. "Aber ich habe mich gefragt: Ist das jetzt Verunsicherung oder ist das Sensibilisierung? Oder sensibilisierte Verunsicherung? Man überlegt jedenfalls - jetzt mehr als vorher - ist das korrekt?"

Was ist ein Fernsehsender? Nicht mehr und auch nicht weniger als ein Teil der Gesellschaft. Die hat sich verändert seit 1981, ja. Aber gerade schaut sie doch noch mal etwas verunsichert auf sich selbst. Verunsichert, oder vielleicht doch, das wäre jedenfalls zu hoffen: sensibilisiert.

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Quelle:
SZ vom 31.03.2018
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