Süddeutsche Zeitung

ARD-Doku über Meşale Tolu:Eine Familie unter dem Damoklesschwert

Die deutsch-türkische Journalistin Meşale Tolu ist aus der Haft entlassen - aber noch lange nicht frei. Die Doku "Angeklagt in der Türkei" wirft einen düsteren Blick auf den Zustand des türkischen Rechtsstaats.

Von Luisa Seeling

Ein Mann und eine Frau laufen über die Istiklal Caddesi, Istanbuls Einkaufs- und Flanierstraße, der Mann schiebt einen Kinderwagen, darin ein kleiner Junge. Eine ganz normale Familie, könnte man meinen. Doch für Meşale Tolu, ihren Mann Suat Çorlu und ihren Sohn Serkan ist seit mehr als einem Jahr nichts mehr normal. Alle drei haben Monate im Gefängnis verbracht, und auch wenn sie nun aus der Haft entlassen und wiedervereint sind - frei sind sie noch lange nicht. Die Verfahren gegen beide Eltern laufen weiter; bis dahin darf Tolu, die in Ulm geboren und deutsche Staatsbürgerin ist, die Türkei nicht verlassen.

Über diese Familie unter dem Damoklesschwert haben die ARD-Journalisten Oliver Mayer-Rüth und Cemal Taşdan eine halbstündige Doku gedreht. Angeklagt in der Türkei ist sehenswert, nicht nur, weil der Film eine überraschend kämpferische Angeklagte zeigt, die den festen Willen äußert, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern auch, weil er einen kritischen Blick auf den Zustand des türkischen Rechtsstaats insgesamt wirft. Um es vorwegzunehmen: Es sieht düster aus.

Meşale Tolu ist eine von Zehntausenden, die in der Türkei seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 wegen Terrorvorwürfen festgenommen wurden. Die 33-Jährige beschreibt, wie vermummte Polizisten im April 2017 in ihre Wohnung eindrangen. Wie sie zu Boden gedrückt wurde, wie ein Beamter ins Kinderzimmer stürmte, mit vorgehaltener Waffe. Tolu hat ihren Sohn später zu sich geholt, fünf Monate hat er, im Alter von zwei Jahren, mit seiner Mutter in einem Istanbuler Frauengefängnis verbracht. Angeklagt ist die Journalistin und Übersetzerin wegen Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Konkret wird angeführt, sie habe an der Beerdigung zweier Frauen teilgenommen, die einer linksextremistischen Organisation angehörten. Tolu weist die Vorwürfe zurück, sie sieht den wahren Grund für ihre Verhaftung in ihrer Arbeit für eine kleine linke Nachrichtenagentur.

Angeklagt in der Türkei zeigt, dass das Verfahren gegen Tolu kein Einzelfall ist. Zahlreiche Oppositionelle und Regierungskritiker wurden wegen fadenscheiniger Terrorvorwürfe vor Gericht gestellt, es handelt sich nicht um Auswüchse, die Methode hat System. Zu Wort kommen Betroffene, Anwälte und Oppositionspolitiker - aber auch ein regierungsnaher Jurist, der in dem Vorgehen der Behörden kein Problem erkennen will: Es handele sich um "Vorsichtsmaßnahmen" zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan versprach kürzlich, dass die Justiz im Falle seiner Wiederwahl am 24. Juni "noch unabhängiger arbeiten" werde. Für Meşale Tolu und viele andere dürfte das wie Hohn klingen.

Weltspiegel Extra: Angeklagt in der Türkei, Das Erste, 23.30 Uhr.

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SZ vom 22.05.2018/doer
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