Meinungsfreiheit in den Medien:Standgericht der Schein-Toleranten

Apple CEO Tim Cook speaks on stage during an Apple event at the Flint Center in Cupertino

Tim Cooks Coming-Out hat Wellen geschlagen - ein Kommentar dazu auch.

(Foto: Stephen Lam/Reuters)

Die Reaktionen auf das Coming-out von Apple-Chef Tim Cook haben gezeigt: Toleranz wird in der Öffentlichkeit immer öfter zu einem Kampfbegriff. Gerichtet gegen all jene, die es wagen, den gesellschaftlichen Konsens infrage zu stellen.

Von Marc Felix Serrao

In diesem Herbst hat die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) ihren Geist aufgegeben. Das Blatt ist fast 235 Jahre alt, aber für den Niedergang reichten weniger als 140 Zeichen. Am Anfang stand ein Kommentar zum Coming-out von Apple-Chef Tim Cook. Dieser hatte in einem Artikel seine Homosexualität öffentlich gemacht. Christiane Hanna Henkel, Autorin der NZZ, kritisierte das Bekenntnis des Managers als professionellen Fehltritt.

Wenn sich Apple als Unternehmen für "Diversität" einsetze, sei das völlig legitim, schrieb sie. Wenn hingegen Cook als Einzelner seine herausgehobene Position als leitender Angestellter des Konzerns benutze, um seine sexuelle Orientierung zum Thema zu machen, sei das "nicht Bestandteil seiner Aufgabe". Er sei schließlich kein Bürgerrechtler oder Politiker. Weiter störte sich die Autorin daran, dass der Manager seine Homosexualität als Gottesgeschenk bezeichnet. Das sei arrogant, impliziere es doch, dass die heterosexuelle Mehrheit weniger "beschenkt" sei.

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Es gibt vieles, was man an diesem Kommentar kritisieren kann. Die eigenartige und arbeitsrechtlich schwer haltbare Behauptung etwa, dass sich ein Angestellter, leitend oder nicht, öffentlich nur im Sinne seiner beruflichen Funktion äußern dürfe. Man muss kein Bürgerrechtler sein, um sich für den Schutz der eigenen Minderheit einzusetzen. Es reicht, Bürger zu sein.

Dann die unterstellte Überheblichkeit. Cook ist Jahrgang 1960. Er ist in Alabama zur Welt gekommen und aufgewachsen. Als junger Schwuler dürfte er in den amerikanischen Südstaaten der siebziger und achtziger Jahre heterosexuelle Häme zu spüren bekommen haben. Wenn er heute Stolz auf seine Liebe zu Männern empfindet, dann ist das sein gutes Recht.

Lob für eine öffentliche Demütigung

Was allerdings bei der NZZ nach der Veröffentlichung dieses Textes geschehen ist, ist nicht nur ein handwerklicher Fehler. Es ist ein Kulturbruch. Leider hat das fast niemand registriert.

Nach ein paar aufgebrachten Twitterkommentaren, die der NZZ-Autorin Homophobie und Intoleranz vorwarfen, distanzierte sich der Chefredakteur der Zeitung, Markus Spillmann, öffentlich und bezeichnete den Artikel der Kollegin via Twitter als "Fehlleistung".

Längere Zurechtweisungen erschienen unter der Online-Fassung des Textes und bei Facebook.

Wo anfangen mit der Kritik? Bei der Tatsache, dass der Chefredakteur die eigene Mitarbeiterin derart desavouiert? Bei dem Klassenlehrertonfall ("Fehlleistung")? Bei der hanebüchenen Behauptung, die Autorin habe dem Apple-Chef allen Ernstes sein Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung abgesprochen? Kritikwürdige Texte erscheinen jeden Tag in jedem Medium. Über viele wird entsprechend geurteilt, in Leserkommentaren und in Konferenzen hinter verschlossenen Türen. Aber so? Öffentlich? Durch den Chefredakteur selbst und ohne die Chance auf eine Widerrede, die nicht den Arbeitsplatz gefährden würde? Ein größerer Gesichtsverlust ist schwer vorstellbar. Eine rückgratlosere Führung ebenfalls. Und das bei der NZZ.

Das stolze Blatt, 1780 gegründet, wirbt bis heute damit, dass es das Tagesgeschehen "im Geiste einer liberalen Weltanschauung" begleitet. Doch das Gespenst des digitalen Mobs hat den alten liberalen Geist offenbar verjagt. Und das nicht nur bei der NZZ.

Im gleichen Telegrammstil, in dem Spillmann seine Kollegin öffentlich vorgeführt hatte, wurde der Chefredakteur anschließend gefeiert, auch in Deutschland, etwa von Katharina Borchert, Geschäftsführerin von Spiegel Online: Oder von Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit Online: "Wenn Kritik zu weit geht", titelte die FAZ im Netz, und Focus Online bezeichnete den Vorfall gar als "Homo-Gate".

Nachdem die Mehrheitsmeinung formuliert war, folgten die Claqueure. Auf zahlreichen Websites und in Mediendiensten wurde Henkels Text nur noch als "schwulenfeindlich" charakterisiert. Damit war die Debatte, die nie eine war, binnen weniger Stunden beendet. Die Autorin aber, die letztlich nur die Vermischung privater und unternehmerischer Interessen kritisiert hatte, ist auf unbestimmte Zeit abgestempelt: als reaktionäre Unperson, der gerade noch rechtzeitig ein Maulkorb verpasst wurde.

Wie die Ausgrenzung durch die Schein-Toleranten funktioniert

Der Mechanismus der Ausgrenzung ist in solchen Fällen stets derselbe. Man kann ihn mit einem Paintball-Spiel vergleichen. Die grell leuchtenden Farbkugeln, mit denen die Spieler auf ihre Kontrahenten schießen, sind wie aktuelle gesellschaftliche Bannwörter. Viele beginnen mit Vorsilben wie "rechts" und "hetz" oder enden auf "phob" oder "feindlich". Dabei ist es in vielen Fällen nachrangig, ob einer wirklich hetzt und tatsächlich Angst vor einer bestimmten Religion oder gesellschaftlichen Gruppe verbreitet oder ihr gar feindlich gesonnen ist. Wichtig ist, dass ihn möglichst schnell möglichst viele grelle Geschosse treffen. Und wenn ein Großkaliber wie der NZZ-Chefredakteur mitfeuert, beschleunigt das das moralische Standgericht ungemein.

Neben den Bannwörtern kommt es auch auf die richtigen Schutzbegriffe an. Wer den Anderen mundtot machen will, muss gleichzeitig ein Gut postulieren, das es zu verteidigen gilt. Toleranz zum Beispiel. Toleranz findet jeder gut - selbst wenn ihm die Bedeutung des Begriffes völlig fremd ist. Tolerant: Das ist heute, wer dem säkularen, postnationalen, multikulturellen und von Gender Mainstreaming und Diversity durchdrungenen Geist der Zeit beipflichtet. Intolerant und verdächtig sind alle anderen, selbst wenn sie ihre Zweifel so leise und gesittet vortragen wie die Dame von der NZZ.

Wie herrschende Meinungen andere verdrängen

Dass Toleranz das Gegenteil dessen meint, was seine selbsterklärten Wächter behaupten? Egal. Es gilt nicht mehr, die andere, von der eigenen Überzeugung abweichende Meinung auszuhalten, sie im Wortsinne zu dulden. Wo die europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts politische Gegner sahen, die es auch im Streitfall als Mitbürger zu achten und im Notfall zu schützen galt, sehen die Bürgerwehren des Zeitgeists nur noch Feinde des Fortschritts. Die muss, nein, die darf man nicht tolerieren.

Die sozialwissenschaftliche Hypothese zu dieser moralischen Hausmeisterei - dreieinhalb Jahrzehnte alt, aber immer noch hilfreich - ist Elisabeth Noelle-Neumanns "Schweigespirale". Sie besagt, dass tatsächlich oder auch nur vermeintlich vorherrschende Meinungen andere Meinungen mit der Zeit verdrängen können, indem deren Vertreter sich aus Furcht vor Ausgrenzung aus dem Diskurs zurückzuziehen.

Der Fall der NZZ-Autorin Henkel ist ein gutes Beispiel dafür. Jede Wette: Weder sie noch irgendein anderer Mitarbeiter der großen alten Zeitung wird es künftig noch wagen, einen Text abzugeben, der der kodifizierten Haltung der Blattspitze widerspricht. Dasselbe dürfte für die Mitarbeiter von Zeit Online und Spiegel Online gelten, die die Begeisterung ihrer eigenen Führungskräfte für Spillmanns Machtwort registriert haben.

Wie immer weniger sag- und schreibbar wird

Neu an diesem Prozess ist neben dem immer schriller werdenden Ton auch das Tempo der öffentlichen Verurteilung. Die Schweigespirale, die Noelle-Neumann im Zuge einer Wahlkampfbeobachtung in den Siebzigern entwickelt hat, beschreibt eine allmähliche Ausgrenzung. Im Digitalen dauert das Ganze nur noch Stunden. Aus der stillen Spirale ist eine Art Brüllfeder geworden: Statt abzuwarten, bis einer von selbst verstummt, wird er mit maximaler Lautstärke hinauskatapultiert. Die Menge des Sag- und Schreibbaren wird dabei stetig kleiner.

Peter Sloterdijk hat diesen Trend zur Meinungskonsonanz in seinem Aufsatz "Letzte Ausfahrt Empörung" auf den Punkt gebracht hat.

Auf breiter Front sieht man dieselben Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen, dasselbe Ausweichen ins Mobbing gegen die Träger 'unerwünschter Meinungen', dasselbe Unbehagen an der Wortergreifung der Unberufenen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakterfestigkeit.

Sloterdijk beschreibt, wie eifrig sich weite Teile der "manchmal seriösen Presse" den Wunsch nach einer handzahmen berechenbaren Öffentlichkeit zu eigen gemacht haben. Das geht schnell und kostet nichts.

Der Philosoph kennt das beschriebene Mobbing inzwischen auch aus eigener Anschauung. Erst im Juni hat der Autor und Kolumnist Georg Diez versucht, Sloterdijk mit Schmähbegriffen wie "Freiheitsfeind" und "rechtskonservativer Dimpfl" zu brandmarken. Dass von der grellen Munition in diesem Fall nichts kleben blieb, liegt vermutlich daran, dass Diez schon zu oft und zu schrill versucht hat, Personen des öffentlichen Lebens ins gesellschaftliche Aus zu schreiben.

Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Die Brüllfeder mag kurzfristig klemmen. Auf lange Sicht funktioniert sie. Und sie zerstört genau das, was ihre Freunde zu schützen vorgeben: den Rest vom Traum einer tatsächlich toleranten Gesellschaft.

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