Süddeutsche Zeitung

Journalismus:Welche Risiken Online-Umfragen bergen

Umfragen im Netz sind beliebt, weil sie Leser länger auf den jeweiligen Webseiten halten - sie sind aber auch leicht zu manipulieren. Und das kann besonders vor Wahlen gefährlich sein.

Von Kathrin Hollmer

Dirk Wildt, Vorsitzender der Grünen im Kreisverband Passau-Land, hat seit ein paar Monaten ein besonderes Hobby: Er manipuliert gezielt Online-Umfragen von Medien, zuletzt nahm er sich Ende Juni den Bayerischen Rundfunk vor. Bayern 2 hatte in einem Online-Artikel gefragt, ob es vertretbar ist, dass die Bundesregierung trotz instabiler Sicherheitslage wieder einen Flug mit abgelehnten Asylbewerbern nach Afghanistan plant. Wildt gab etwa 120 Neinstimmen (von insgesamt etwa 2500) ab und stärkte damit nach eigenen Angaben diese Position. Am Ende siegten die Gegner solch eines Fluges deutlich. Wildt informierte den BR-Intendanten Ulrich Wilhelm und reichte eine Programmbeschwerde ein. Der Artikel ist inzwischen offline.

Man muss die Aktion von Dirk Wildt, der einst selbst Journalist bei der taz war und heute mit seiner Firma Netzmacher auch "Internetdienstleistungen" anbietet, wohl als eine Art medienpolitische Kunstaktion begreifen, mit der er auf ein Thema aufmerksam machen will: Viele Online-Medien starten regelmäßig Umfragen zu allen möglichen Themen. Umfragen und Rankings halten Leser länger auf ihren Webseiten, weil diese erst abstimmen und danach in der Regel auch die Ergebnisse erfahren wollen.

Meist stellen die Online-Medien harmlose Fragen. Nach dem Lieblings-Tatort-Kommissar, dem beliebtesten Fußballverein oder ob man gerne Gin Tonic trinkt. Aber immer wieder wird auch nach politisch brisanteren Themen gefragt: "Schulz vs. Merkel - wer macht das Rennen?", fragt etwa bild.de und Antenne Bayern: "Braucht Bayern eine Impfpflicht?" Dirk Wildts Punkt: Wenn sich die Ergebnisse dieser Umfragen so leicht manipulieren lassen, könnte das problematisch sein, gerade vor der anstehenden Bundestagswahl im September.

Mit Journalismus habe das nichts zu tun, sagen Kritiker: Medien machten sich damit angreifbar

"Mit seriösem Journalismus haben solche Umfragen wenig bis gar nichts zu tun", sagt Wildt am Telefon. "Sie können keine repräsentative Aussage liefern, höchstens darüber, wer besser mobilisiert, ob Einzelpersonen oder Gruppen." Medien machten sich damit angreifbar: "Die Bild-Zeitung ließ vor Kurzem in der Sonntagsfrage abstimmen, für welche Partei man bei der Bundestagswahl stimmt. Als die AfD bei mehr als 50 Prozent war, wurde die Umfrage gelöscht - und von AfD-Seite kam der Vorwurf, dass die Bild das Ergebnis vertusche."

Besonders kompliziert ist so eine Manipulation nicht: Bereits zu Jahresbeginn hat Wildt eine Online-Umfrage eines niederbayerischen Anzeigenblatts zugunsten von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz beeinflusst, im Mai gab er in einer Umfrage der Online-Ausgabe des Münchner Merkur zum Bau einer dritten Startbahn am Münchner Flughafen innerhalb einer Stunde mehr als 180 Gegenstimmen von insgesamt knapp 5000 ab und erhöhte den Anteil der Gegenstimmen von 54 auf 58 Prozent. Bis zu 30-mal konnte er abstimmen, als er im Browser das Speichern von Cookies deaktiviert hatte, jener kleinen Programme, mit denen Webseiten Nutzer bei ihrem nächsten Besuch wiedererkennen. Wenn er seinen Router neu startete, konnte er mit neuer IP-Adresse erneut 30-mal abstimmen. Süddeutsche.de erstellt seine Online-Umfragen gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey, das sowohl technisch als auch durch statistische Methoden solche und ähnliche Manipulationsmöglichkeiten minimiert.

Der Grünen-Politiker reichte eine Beschwerde beim Presserat ein und kritisierte: "Ein journalistisches Umfeld erhöht die Glaubwürdigkeit von Online-Umfragen, manipulierbare Online-Umfragen allerdings gefährden die Glaubwürdigkeit des journalistischen Umfelds." In einem E-Mail-Verkehr, den Wildt im Internet veröffentlichte, verglich Armin Linder, Chef vom Dienst von Merkur.de und tz.de, die Online-Abstimmungen mit Straßenumfragen. Doch anders als Straßenumfragen, die persönliche Statements von ein paar Bürgern spiegeln, kann eine Prozentzahl auf einer journalistischen Webseite beinahe den Eindruck eines Bürgerentscheids erwecken. Dazu kommt, dass nicht alle Medien bei eigenen Umfragen anmerken, dass diese oft nicht repräsentativ sind.

Auch in der Forschung sieht man Online-Tools durchaus kritisch: "Offene Online-Umfragen sind beliebig manipulierbar", sagt Simon Hegelich, Professor für Political Data Science an der TU München. Dass sich Leute absprechen und bewusst mehrfach an einer Umfrage teilnehmen, könne man auch gar nicht verhindern: "Das konnte man noch nie." Das Internet macht derlei Stimmungsmache noch einfacher. "Man darf nie vergessen: Die Menschen handeln online immer anders als im echten Leben", sagt Hegelich. "Und sie reagieren auch anders auf eine Umfrage, als wenn sie sich wirklich damit beschäftigen."

Problematisch sei Hegelich zufolge auch, wen man erreicht: Die meisten Nutzer beteiligten sich kaum oder wenig, nehmen vielleicht einmal in drei Monaten an einer Abstimmung teil. Demgegenüber stehe eine kleine Gruppe von Meinungsmachern, die sich extrem stark beteiligt. "Die Leute, die regelmäßig an Abstimmungen teilnehmen, sind immer dieselben", sagt Hegelich. Oft werden in Online-Umfragen nur gut hundert Stimmen abgegeben, manchmal auch ein paar Tausend, dadurch können einzelne, die mehrfach abstimmen, schnell starkes Gewicht bekommen.

Bei der Petition für ein zweites Brexit-Referendum gaben Bots Zehntausende Stimmen ab

Hegelich warnt generell davor, von der Online-Welt auf die echte zu schließen: "Alle Online-Bewertungen sind systematisch verfälscht. Wenn ich daraus, dass der Hashtag #schulz öfter als #merkel verwendet wird, schließe, dass Schulz wirklich populärer als Merkel ist, bin ich womöglich auf lauter Bots hereingefallen." Dass solche Programme automatisch und in großem Stil abstimmen, könne man Hegelich zufolge ohne großen technischen Aufwand verhindern. Dies wird aber nicht bei allen Online-Petitionen gemacht. 2016 wurden bei der Petition für ein zweites Brexit-Referendum Zehntausende Stimmen von Bots abgegeben und so das Ergebnis verfälscht.

Obwohl Online-Umfragen seit Jahren beliebt sind, ist Wildts Beschwerde laut Presserat die erste zu dem Thema. Dort befindet sich die Beschwerde auf Nachfrage noch in der Vorprüfung und soll am 14. September in einem Beschwerdeausschuss behandelt werden - zehn Tage vor der Bundestagswahl. So lange versucht Wildt, die Medien direkt anzugehen. Den BR forderte er nicht nur auf, die Umfrage zu löschen, sondern grundsätzlich auf manipulierbare Umfragen zu verzichten. Intendant Wilhelm antwortete Wildt in einem Brief, der der SZ vorliegt, man werde sich "im Vorfeld der Bundestagswahl generell mit politischen Umfragen zurückhalten".

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Quelle:
SZ vom 17.07.2017/cag
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