Süddeutsche Zeitung

Mediengesetze in der Ukraine:Ausweitung der Kontrollzone

Die Ukraine plant unter Präsident Selenskij drastische Mediengesetze. Schon jetzt stehen Journalisten unter massivem Druck.

Von Florian Hassel

Es war kurz nach Mitternacht am 17. August, als das Auto Boris Masurs vom Kiewer Investigativprogramm Schemij in Flammen aufging. Aber darüber wunderte sich niemand sonderlich. Mit Recherchen zur Korruption von Richtern und Staatsanwälten, Parlamentariern oder Mitarbeitern des Präsidialapparats arbeiten die Schemij-Journalisten beharrlich an der Verlängerung ihrer Feindesliste. Selbst der Präsident ist nicht tabu: Ende Juli etwa berichtete Reporter Michailo Tkatsch, dass die Autokolonne des Präsidenten Verkehrsregeln brach. Am 7. August fand Tkatsch, Autor etlicher brisanter Enthüllungen, ein Loch in seiner Küchendecke, wo offenbar entweder Abhörtechnik versteckt werden sollte oder versteckt war.

Die Schemij-Recherchen sind überhaupt nur möglich, weil der US-Auslandssender Radio Free Europe einen ukrainischsprachigen Dienst betreibt und die Recherchen maßgeblich finanziert. Auch das Bürgerfernsehen Hromadske oder die ebenfalls investigativ arbeitenden Infodienste Slidstvo.info oder Bihus.info leben von Zuschüssen westlicher Botschaften oder Stiftungen, Spenden oder - wie das Wochenmagazin Nowoje Wremja - von einem westlich geführten Investmentfonds. Sie alle erreichen nur ein politisch interessiertes Nischenpublikum.

Reporterinnen und Reporter leben in der Ukraine gefährlich. Seit der Unabhängigkeit 1991 wurden weit über 50 Journalisten ermordet. Als letzter starb Ende Juni 2019 Wadim Komarow, der in der Stadt Tscherkassi über Korruption im Stadtrat berichtet hatte. Seit Anfang 2020 wurden laut Generalstaatsanwaltschaft 484 Verfahren wegen Verbrechen gegen Journalisten eröffnet, die Polizei meldete Mitte September Dutzende von Todesdrohungen.

Journalisten werden mutmaßlich nicht nur von Betroffenen ihrer Recherchen bedroht, sondern oft genug auch von korrupten Polizisten, Staatsanwälten oder Offizieren des Geheimdienstes - und dies lange bevor Kiew ein umstrittenes Mediengesetz und ein Gesetz über Maßnahmen gegen Desinformation beschließt.

Ein modernes Mediengesetz fordert seit Jahren auch der Europarat. Bisher werden die Medien mit neun Gesetzen teils aus Sowjetzeiten reguliert, dem Analysten Andrij Janitzkij zufolge allerdings widersprüchlich - und oft nur auf dem Papier. Das sollte unter Präsident Wolodimir Selenskij anders werden. Seine Parlamentsmehrheit entwarf ein Mediengesetz, das Ministerium für Kultur und Informationspolitik legte einen weiteren Entwurf zu Maßnahmen gegen Desinformation vor. Beide Gesetzentwürfe lösten nach ihrer Vorlage im Januar 2020 trotz etlicher sinnvoller Bestimmungen einen Sturm der Kritik aus - nicht nur von Journalistinnen und Journalisten, sondern auch vom Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen oder der OSZE. Etliche Vorschriften - beispielsweise zum Vorgehen gegen Fake News, einer Registrierungspflicht für Medien und Offenlegungspflicht der wahren Eigentümer - sind berechtigt: Die Ukraine ist ein Land im Krieg. Es gibt weitgehende Manipulation durch russische oder moskaufreundliche ukrainische Medien oder Manipulatoren in den sozialen Medien, das stellen neben dem mitunter tendenziös informierenden Geheimdienst auch unabhängige Medien- und Bürgergruppen fest. Doch daneben soll dem Entwurf des Desinformationsgesetzes zufolge eine staatlich kontrollierte Journalistenvereinigung geschaffen werden, die künftig als einzige Presseausweise ausgeben darf. Möglichkeiten zur Sanktionierung widerspenstiger Medien sollen erheblich erweitert werden, durch die von Präsident und Parlament kontrollierte Staatskommission für Fernsehen und Radio und einen neuen "Informationskommissar" - was Kritikern zufolge Zensur ermögliche.

Am 2. Juli wurde ein revidierter Entwurf des Mediengesetzes vorgelegt. Auch der wird harsch kritisiert. Der Menschenrechtsanwalt Wolodimir Jaworskij fand etliche Bestimmungen, die internationalen Grundsätzen für Pressefreiheit widersprächen und mithilfe unklarer Formulierungen wie "Propaganda", "positiver Berichterstattung", "Popularisierung" oder "krimineller Natur" erlauben würden, nahezu jede unliebsame Berichterstattung zu verbieten oder zu sanktionieren - auch mit hohen Geld- oder Gefängnisstrafen.

Dem Tagungsplan des Parlaments zufolge sollte das Mediengesetz eigentlich nach dem 29. September beraten werden. Dazu kam es allerdings nicht - warum, ist unklar. Anfragen zu diesem Thema bleiben bei der Rada, dem ukrainischen Parlament, ebenso unbeantwortet wie solche zum Informationsgesetz beim Kulturministerium. Aber auch schon ohne diese Gesetze geht der Staat im Medienbereich recht burschikos vor. Mitte September wurde die Rolle des Inlandsgeheimdienstes SBU mit einer neuen Sicherheitsdoktrin und einem neuen Geheimdienstgesetz auch bei der Medienkontrolle faktisch gestärkt. Kiewer Bürgergruppen kritisierten das ohne öffentliche Diskussion verabschiedete Gesetz: Es sei verfassungswidrig und stehe im Widerspruch zu Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Seit Monaten gehen das als Werkzeug der Präsidialverwaltung geltende Nationale Investigativbüro und der von Selenskij und dem Parlament besetzte Nationale Rat für Fernseh- und Radioausstrahlung gegen den Fernsehsender Priamij TV vor, der Ex-Präsident Petro Poroschenko zugeschrieben wird. Dem schwesterlichen Radiosender Priamij wurde im September die Sendelizenz entzogen.

Und das öffentlich-rechtliche Fernsehen? Ist seit Jahren unterfinanziert, da sich das von den Oligarchen mitkontrollierte Parlament weigert, Geld zu bewilligen. In der Zuschauergunst dümpelt das Sparfernsehen bei einer Quote von einem Prozent.

Glänzend läuft es für die Medienimperien der Oligarchen: Die Milliardäre Ihor Kolomoiskij, Rinat Achmetow oder Wiktor Pintschuk kontrollieren Fernsehsender und Internetinfodienste - die Hauptinformationsquellen der Ukrainer. TV-Marktführer 1+1 wurde von Kolomoiskij Anfang 2019 massiv dafür eingesetzt, um Selenskij zum Präsidenten wählen zu lassen. Die Kontrolle der Oligarchen über große Teile der öffentlichen Meinung ist einer der Hauptgründe dafür, warum die Ukraine im Ranking der Washingtoner Gruppe Freedom House nur als "teilweise frei" gilt. Auch im Pressefreiheitsindex der Reporter ohne Grenzen liegt das Land auf Platz 96 - von 180.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2020
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